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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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fünfundzwanzigsten Lebensjahr langsam anfängt zu sterben oder zu verdummen, wie einige Physiologen, Psychologen und mein Vater behaupten.
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    29. April 2004
Internationales
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    Gestern habe ich mit einer Freundin gesprochen, die meinte, Polen sei kein so tolles Land. Woraufhin ich ihr antwortete, es käme auf die Menschen an, nicht auf das Land. Und die Einstellung zu einem Land entsteht in erster Linie durch die Begegnung mit dessen Menschen.
    Dasselbe trifft auf die Nationalität zu. Woher kommt eigentlich die Xenophobie? Weil einer mal einen einzigen bösen Tschetschenen trifft und daraufhin das gesamte Volk zum Teufel wünscht.
    Es war noch Sommer, irgendwann im Juli, als ich mit Vera in einer Datschensiedlung spazieren ging. Meine Tochter und ich atmeten den Duft von Lindenblüten und frischem Dung. Ganz unvermittelt sprang von Veras Kinderwagen ein Rad ab. Was sollte man tun? Das Haus weit weg, kein Mobiltelefon dabei, ringsum beinahe nur einstöckige Datschas.
    Es waren aber nicht nur einstöckige Häuser. Im Wesentlichen waren es Häuser, die man im Russland des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts noch Villen genannt hat.
    Ich klingelte an einer Tür, niemand machte auf. Dann an der nächsten – dasselbe Ergebnis. Alles war wie ausgestorben, nur die Überwachungskameras summten über meinem Kopf. Am dritten Bojarenhaus meldete sich ein Mann über die Gegensprechanlage:
    Â»Was willste?«
    Â»An meinem Kinderwagen ist ein Rad abgesprungen, verstehen Sie? Könnten Sie mir nicht ein Stück Schnur rausgeben, damit ich es irgendwie festbinde?«
    Â»Wozu eine Schnur?«
    Â»Auf drei Rädern bring ich ihn nicht nach Hause!«
    Â»Wen?«
    Â»Den Kinderwagen, sehen Sie, dort steht ein Kinderwagen, darin liegt ein Kind.«
    Â»Ich kann nicht rauskommen, ich bin allein.«
    An der nächsten Villa machte mir auch niemand auf. Endlich fand ich eine schiefe Hütte, die zwischen zwei Ziegelsteinmonstern eingeklemmt war. Da eskeine Klingel gab, klopfte ich an die Tür. Niemand öffnete. Ich ging hinein.
    Â»Hej, ist jemand hier?«
    Â»Ja, komm Sie rein, junges Frau.«
    Â»Nein, ich kann nicht, mein Kind ist noch draußen. Könnten Sie mir ein Stück Schnur geben, mir ist ein Rad abgebrochen, und ich kann es nicht wieder anbringen.«
    Â»Natuhrlich.«
    Vor mir stand eine grauhaarige aserbaidschanische Frau. Sie schaute sich den Kinderwagen an und fragte, wo ich entlanggegangen sei, denn ich müsse ein kleines Teil vom Rad verloren haben. Sie wollte mir helfen, das Ding zu finden …
    Â»Mach Sie kein Sorgen, Aram passt auf Wagen.«
    Zu Vera gesellte sich ein aserbaidschanischer Mann, gefolgt von fünf weiteren Landsmännern. Sie umringten den Kinderwagen in einem dichten Kreis und unterhielten sich in ihrer Sprache.
    Die Kaukasierin und ich suchten an die zwanzig Minuten den Abschnitt des Weges ab, wo das Rad abgebrochen war. Schließlich fanden wir das Teil. Genauer gesagt, sie fand es. Sie brachte es den aserbaidschanischen Männern, die das Rad reparierten.
    Warum ich das alles erzähle? Weil der Kapitalistenarsch davor mir nicht hatte helfen wollen, und auch nicht meinem Kind. Er wollte mir nicht einmal ein Stück einfachen Bindfaden geben! Damit hat er in mir nicht nur ein Gefühl von Klassenkampf hervorgerufen, sondern auch meinen mütterlichen Zorn.
    Ich kann alles verstehen, vielleicht war er gerade im Quartalssuff oder seine Konkurrenten hatten ihm seine Ware gestohlen. Aber ich kann nicht verstehen, wie maneinem anderen Menschen eine solch banale Bitte abschlagen kann. Etwas Gutes zu tun, was keine Kopeke kostet. Ich habe ihn schließlich nicht um Geld gebeten!
    Das eine Mal will ich es ihm natürlich verzeihen, aber ich würde mich nicht wundern, wenn er mit seinem knauserigen Verhalten eines Tages in seiner aufgemotzten Hütte, die zufällig Feuer gefangen hat, verbrennt. Wahrscheinlich mag man uns deswegen nicht im Ausland, weil sich alle reichen Russen wie er verhalten.
    Und diese Aserbaidschaner habe ich zwar nicht lieb gewonnen, bin aber jetzt weniger voreingenommen. Denn sie haben mir nicht nur das Rad repariert. Beim Abschied sagten sie mit einem Blick auf Vera: »Oj, was für schön Mädchen!«
    Â 
    29. Mai 2004
    Ich komme gerade mit meiner Tochter aus dem Krankenhaus. Vor einem Monat wäre sie fast erstickt. Vera hat an einem Holzlöffel genagt und ihn sich
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