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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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tut das Bein noch weh, er kann weder in der Redaktion noch draußen arbeiten.«
    Â»Kann er nicht in einem Studio arbeiten? Warum muss er ausgerechnet scannen? Verdient er damit genug Geld? Jeder sollte seinem Beruf nachgehen!«
    Â 
    Was ging es mich noch an, was er machte? Ich wusste nichts und wollte auch nichts wissen. Selbst von dem Kind. Von diesem Fremdling, der meinen Körper okkupiert hatte.
    Woran denken Kinder, wenn sie im Bauch ihrer Mutter sitzen? Das hat man noch nicht gänzlich herausgefunden. Wie werden sie vom Gehirn ihrer Mutter beeinflusst? Und wo genau sind in dieser Symbiose von Mutter und Kind die Gedanken der Mutter und die des Fötus? Vielleicht liegt die Wunderlichkeit, die allen Schwangeren eigen ist, am Einfluss des Kindes. Die Persönlichkeit des Kindes beginnt den Charakter der Mutter zu überlagern, und je nach Persönlichkeitsstärke des Kindes und Nachgiebigkeit der Mutter kann es auch zu nächtlichen Spaziergängen kommen, um ein Tütchen Ahoi-Brause zu kaufen.
    Eine schwangere Frau ist der Triumph der Körperlichkeit. Besonders in den letzten Monaten löst sie sich im Kind auf. Ihre physische Existenz verliert sich, unddurch ihren Körper tritt wie durch einen Schleier das Kind hervor.
    Schauen Sie sich die deutlich Schwangeren mal an. Äußerlich nähern sie sich der Infantilität an: Sie haben ein dickes Fettpolster, überhaupt verändern sich alle Körperproportionen, die Bewegungen werden ungelenk, sie sind impulsiv und weinerlich wie Kleinkinder, reagieren übermäßig auf äußere Bedrohungen, haben einen infantilen Gesichtsausdruck, ihre Stimme verändert sich, ihre Aussprache wird babyhaft … Das ist das Kind, das durch den Erwachsenen hervortritt.
    In diesem Tandem übernimmt manchmal der Erwachsene und manchmal das Kind die Führung. Und manchmal sprechen sie im Chor, wodurch alles völlig unverständlich wird.
    Wenn Sie also mit einer schwangeren Frau sprechen, dann steht nicht fest, dass sie es ist, mit der Sie reden.
    Es fiel mir immer schwerer, in die Wohnung von Veras Vater zu gehen. Meine Gedanken schienen wie in Watte gehüllt. Außerdem kam es mir so vor, als würde ich nie entbinden. Als müsste ich mit dem jeden Tag größer werdenden Bauch herumlaufen, bis ich ganz von Plazenta überwuchert wäre. Ich fühlte mich so, als würde ich bald nicht mehr gehen, sondern mich voranwälzen. Als sei ich ein rundes Haus für mein Kind, ein eigenständiges, lebendiges, zusätzliches Organ.
    Jeder Mensch soll ein Haus bauen, ein Kind zur Welt bringen und einen Baum pflanzen. Darin liege der Sinn seines Lebens auf Erden. Die Frau ist während einer Schwangerschaft das Haus für das Kind. Ihr Körper ist ein Haus. Es zu pflegen – ein sakraler Akt.
    Wenn ich entbunden haben werde, dachte ich, mussich nur noch einen Baum pflanzen. Dann kann ich mich aufhängen.
    Â 
    Ich stellte mich auf einen Stuhl und schaute oberhalb des Lampenschirms nach. Kein Geld. Weiter gab es keinen Ort in dieser kleinen Einzimmerwohnung aus der Chruschtschow-Zeit, an dem ich hätte suchen können. Es war durchaus möglich, dass er das gesamte Geld schon ausgegeben hatte …
    Ich ging ins Badezimmer, um mir die Hände zu waschen, die vom Lampenschirm voller Staub waren. Irgendetwas dort war verändert. Ich schaute mich um. Alles schien wie sonst, nur meine Anwesenheit war nicht mehr zu spüren. Es fehlten meine Zahnbürste im Becher, meine Cremes und Kosmetika auf dem Regalbrett vor dem Spiegel. Am Haken hing nur ein Bademantel. Aber was stimmte hier nicht?
    Der Duschvorhang! Der Duschvorhang war mit der Rückseite aufgehängt. Und zwar nicht von mir. Ich erinnerte mich genau daran, wie lange ich darüber nachgedacht hatte, auf welcher Seite des Vorhangs die Fische mehr leuchten. Der Vorhang war also umgehängt worden. Aber wozu?
    Der Vorhang hing an einer Aluminiumstange. Wozu hatte er die Stange gebraucht? Die Stange war mittels Gummipfropfen an der Wand befestigt. Nachdem ich unter Mühe einen von ihnen abgenommen hatte, schaute ich in die hohle Haltestange: das Geld steckte dort in ordentlich zusammengefalteten Röllchen. Es waren ganz klar keine zehntausend mehr. Aber für die nächste Zeit würde es reichen. Schnell nahm ich meine Jacke und ging zur Wohnungstür. Ich schaute durch den Spion. Leise verließ ich die Wohnung. Erst als ich aufder
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