Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
Vom Netzwerk:
hatte. Ja und?
    Ein künstlicher Brei ist wie ein Burger von McDonald’s. Ein flüssiger Hamburger. Das Kind muss darauf vorbereitet werden! Von ein paar
Big Macs
ist noch niemand gestorben. Was die warme Haut der Mutter und die Beruhigung betrifft, die angeblich von der Berührung mit ihr ausgeht, so kannte das Kind dieses Gefühl vor seiner Geburt ja gar nicht, sondern hat im Wasser gelebt.
    Sollen doch die Kinder in den ersten Tagen nach der Geburt in Aquarien leben. Wie im Fruchtwasser können sie darin schwimmen, das ist natürlicher.
    Der Amphibienmensch ist das am besten aufgezogene Kind.
    Â 
    12. April 2004
Striptease
    Â 
    Wer meine Tochter schlafen legen will, muss starke Nerven haben. Vera greint, ningelt, stöhnt und quietscht. Drei Stunden am Stück.
    Heute wollte ich sie mit einem kleinen Heim-Striptease beruhigen. Meine Tochter hörte auf zu quengeln und gab Lachsalven von sich. Sie schüttete sich eine Viertelstunde aus vor Lachen und applaudierte mit den Fersen.
    Ein gutes Mädchen.
    Â 
    13. April 2004
Was man sich erkämpft hat,
ist doppelt köstlich
    Â 
    Seit sie gehen und krabbeln kann, zeigt mir meine Tochter Vera, was für ein verwinkeltes Wesen der Mensch doch ist.
    Es geht um Folgendes: Wenn Vera sich durch die Wohnung bewegt, betastet sie viele verschiedene Gegenstände, testet ihren Geschmack und ihre Festigkeit. Die meisten dieser Gegenstände sind nicht fürs kindliche Experimentieren geeignet. Meine Tochter holt begeistert einen Schuhkarton unter dem Sofa hervor. Meine Tochter greift nach einer leeren Shampooflasche. Meine Tochter erzittert vor Freude beim Anblick des Mülleimers.
    Kinderspielzeug hingegen will sie partout nicht wahrnehmen. Die abgefahrene belgische Kinderrassel mit integriertem Beißring hat sie leichtfertig für einen Magneten preisgegeben, der am Kühlschrank befestigt war. Denn den hatte sie selbst abgerissen, als sie auf dem Schoß ihres Opas saß. Von der Zimmerpalme hat sie ein Blatt abgerissen, das war ihr wichtiger als das Stehaufmännchen aus den Händen ihrer Mutter. Die Fernbedienung vom Fernseher, die sie mit ihrer eigenen Knubbelhand vom Tisch gegriffen hatte, lag ihr mehram Herzen als der von ihrer Großmutter aufgezogene Spielzeughubschrauber …
    So ist das im Leben. Oft hängen wir an Glassplittern, die wir selbst gefunden und nach Größe und Farbe aufgereiht haben, machen uns aber nichts aus einer geschenkten Super-duper-Barbie-Puppe. Und wenn man uns die tollsten neuen Legosteine schenkt, winken wir nur ab und sagen gekränkt: »Lasst mal, seht ihr nicht, dass ich gerade dabei bin, einen Nagel aus der Fußleiste zu ziehen?«
    Â 
    14. April 2004
Das Zungenbändchen
    Â 
    Vera wurde nun doch das Bändchen unter der Zunge angeschnitten. Nun wird sie nicht mit der Zunge anstoßen wie der kleine Wladimir Iljitsch Lenin. Wollen wir hoffen, dass meine Tochter dann wenigstens solche Haare bekommt wie er. Auf dem Oktoberrevolutionsabzeichen sieht er so lockig aus. Doch halt, wenn ich darüber nachdenke, was später aus ihm geworden ist …
    Mit Vera ging nicht ich zum Zahnarzt, sondern meine Mutter, sie hatte sich bei ihm ihre Zähne machen lassen und gleichzeitig verabredet, dass sie ihre Enkelin zum Beschneiden des verkürzten Zungenbändchens vorbeibringt. Meine Mutter kam also hin und blieb im Wartezimmer stehen, Vera auf dem Arm. Die Wartenden verstummten, Grabesstille, dann sagte eine der Omas mit tragischem Unterton:
    Â»Ist denn das die Möglichkeit, sie ist noch so klein und hat schon Zahnschmerzen!«
    Woraufhin meine Mutter erklärte, dass dem Kind nicht die Zähne kuriert, sondern das Zungenbändchenbeschnitten werden soll. Die Omis nickten verständnisvoll, und eine von ihnen sagte:
    Â»Ja, ja, bei unserem Enkelchen haben sie auch eine Beschneidung gemacht, er konnte schlecht pinkeln.«
    Â 
    20. April 2004
Die Dreizehnte
    Â 
    Bald kommt der Tag, an dem Vera das erste Mal in den Kindergarten gehen wird. In die Krippe kann man seine Kinder mit anderthalb Jahren geben. Das heißt, Vera bleibt noch ein wenig mehr als die Hälfte ihres bisherigen Lebens zu Hause. Und dann wird sie sich sozialisieren.
    Natürlich ist noch viel Zeit bis dahin, aber man sollte schon mal darüber nachdenken, wie man seine Tochter zum Umgang mit anderen Menschen erziehen kann. Da ich eine eingefleischte Misanthropin bin, werde ich es ihr wohl kaum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher