Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
Vom Netzwerk:
Hand auf die Bibel (den Koran, die Thora oder was es da sonst noch gibt) legen, sich in den linken Arm ein Wahrheitsserum spritzen und sich mit einem Lügendetektor verbinden lassen, während sie auf einem elektrischen Stuhl sitzen, der sich augenblicklich in Gang setzt, sobald Gedanken und Worte nicht mehr miteinander übereinstimmen.
    Â 
    20. August 2003
Vom Wecker
    Â 
    Wer keine Kinder hat, kann überhaupt nicht verstehen, dass die Mutter eines Neugeborenen in den ersten Monaten kein Mensch ist, sondern ein Roboter mit verschiedenen Programmierungsstufen. Wenn man den Kinderlosen von schlaflosen Nächten erzählt, antworten sie: »Na und, wo soll da das Problem sein! Ich war eine ganze Woche lang nachts in den Clubs unterwegs und fühle mich völlig normal!«
    Ãœbrigens hatte auch ich vor meiner Schwangerschaft nur eine ungenaue Vorstellung von den abstrakten »schlaflosen Nächten«. Das lag daran, dass ich keine Ahnung davon hatte. Man sollte den Leuten nicht von den schlaflosen Nächten der ersten Monate nach der Geburt erzählen, sondern die Aufklärungsarbeit praxisnah durchführen:
    Nehmen Sie einen Wecker und stellen Sie ihn so ein, dass er in der Nacht alle drei Stunden klingelt. Und das einen Monat lang. Dabei ist es streng verboten, den Wecker aus dem Fenster oder an die Wand zu werfen. Sie müssen ihn zärtlich einlullen und ihm über das Knöpfchen streicheln. Dabei wird sich der Wecker zeitweise verklemmen und Sie müssen sein Getön ein, zwei, drei Stunden oder die ganze Nacht ertragen. Wobei Sie aber am Tag nicht schlafen dürfen, weil der Wecker auch dann nicht schlummert, sondern nach Ihrer Aufmerksamkeit und nach neuen Batterien verlangt. Auch dürfen Sie sich nicht außerhalb der Reichweite des Weckers begeben.
    Nach einem Monat dieses Lebens schauen Sie in den Spiegel. Warum sind Sie denn so stillos gekleidet? Warumhat Ihre Haut eine kalkig-lehmige Färbung? Warum sind Sie so ungesprächig und kleinkariert geworden – Sie benehmen sich wirklich wie ein Muttchen.
    Â 
    25. August 2003
Zentralgefängnis von Wladimir
    Â 
    Kluge Menschen haben mir nach der Geburt meiner Tochter ans Herz gelegt: Besorg dir ein Luftgewehr. Nein, ich habe nicht auf sie gehört, ich habe einen Fotoapparat gekauft. Diese Luftgewehre sind eine nette Sache. Man braucht keinen Waffenschein, der Preis ist annehmbar und sie schießen so gut, dass man jemanden damit töten kann. Ich würde jetzt das Fenster öffnen und mit einem gezielten Schuss die Drehorgel zertrümmern, die seit Stunden vor unserem Fenster leiert. Wie viele Leute in meinem Haus sich wohl solidarisch erklären würden?
    Dabei hatte ich heute etwas früher schlafen gehen wollen.
    Ob sie mich finden, wenn ich dieses Jodel-Auto zerschieße? Und wenn sie mich finden, wie würden sie mich dann bestrafen? Wahrscheinlich mit einem Bußgeld. Und wenn ich mich weigerte zu zahlen? Würden sie mich dann für fünfzehn Tage wegen Rowdytums hinter Gitter bringen? Und wenn sie das täten, würden sie dann wohl erlauben, dass ich Vera mitnehme? Und wenn sie es erlauben würden, müssten wir dann wohl in eine Einzelzelle oder in Gemeinschaftshaft?
    Wir säßen dann dort in der Stille, ohne dass uns irgendeine Alarmanlage das Hirn zermarterte, und würden das berühmte Chanson
Zentralgefängnis von Wladimir
singen. Voller Wehmut.
    Â 
    25. August 2003
Das Gewehr
    Â 
    Aber eigentlich ist ein Gewehr nicht so wichtig. Mittlerweile kann man auch gute Sportschleudern und Schlagstöcke kaufen. Obwohl vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen Luftgewehre schon etwas Solides sind. Was ist dagegen ein Schläger oder eine Schleuder? Minimalextremismus. Ein Gewehr hingegen ist besonders für eine Frau mit einem kleinen Kind eine unverzichtbare Sache, das wird mir erst jetzt klar. Man stelle sich eine Poliklinik vor, eine Kinderklinik, dazu noch im Winter. Genau, eine Kinderklinik im Winter während einer Grippeepidemie.
    Und da tauche ich am Fuße der Stufen auf. Auf dem einen Arm halte ich mein Kind, das an einem Schnuller nuckelt. In der anderen halte ich ein Luftgewehr. Langsam nähere ich mich dem Sprechzimmer und frage die Mamas mit ihren Kinderchen höflich: »Wer ist der Letzte?«
    Â 
    26. August 2003
Große Vorbilder
    Â 
    Doch eigentlich sollte ich darüberstehen. Was soll schon dabei sein, wenn die Alarmanlage schrillt … Man
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher