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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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liegt.
    Nein, so geht das nicht!
    Gut, das Abtrennen von Fingern ist inhuman.
    Aber man kann etwas anderes machen, ohne irgendwelche Gliedmaßen abzuschneiden. Ich finde, man sollte kleine Tätowierungen als Zeichen setzen. So wie die Sterne auf Jagdflugzeugen.
    Im gegebenen Fall sollten es Kreuze sein. Um den Datenschutz zu gewähren, sollte man das Tattoo in Höhe der Badehose setzen, zum Beispiel auf den Hintern. Ich finde, das ist keine schlechte Idee. Wenn eine Frau eine Abtreibung gemacht hat, bekommt der Mann ein Kreuz auf den Hintern. Sollte noch ein Kind ausgeschabt werden, gibt es ein zweites Kreuz. Oder ein Brandmal.
    Veras Vater war empört. »Auch Frauen sollten an die Verhütung denken. Ladet die Verantwortung nicht bei uns ab! Denkt selbst mal nach und setzt euch Kreuze auf den Arsch.«
    Â 
    Die Feministinnen sind dumm. Sie kämpfen für die Gleichstellung mit den Männern und sind bereit, einen Mann zu erschießen, wenn er ihnen in den Mantel hilft. Sie lassen die Frauen Eisenbahnschwellen schleppen und nehmen ihnen das Recht, die Schwächeren zu sein. Das ist keine Gleichheit der Geschlechter. Das ist pervers.
    Man sollte dafür kämpfen, dass auch der Mann die Freuden der Schwangerschaft und der Geburt erfährt und Millionenkredite für wissenschaftliche Forschungen auf diesem Gebiet aus dem Staat herausholen. Für die Aufklärungsarbeit unter den vielen Unwissenden, die sich gegen dieses Glück verwahren. Anstatt ständig um Geld fürs Klonen zu betteln.
    Möge auch der Mann gebären und sein Kind stillen. Dann gibt es eine echte Verständigung zwischen den Geschlechtern und Frieden auf der ganzen Welt.
    Â 
    Es war erstaunlich, aber kaum hatte ich von meiner Schwangerschaft erfahren, wurde mir schlecht. Ich merkte, wie meine Kräfte nachließen. Meine Brüste wurden sehr empfindlich. Meine Gedanken ganz verworren. Mein Appetit abartig. Eines Tages hatte ich plötzlich den brennenden Wunsch, an einer Kerze zu schnuppern.
    Deswegen verbrachte ich einen ganzen Morgen mit der Suche nach einer Kerze, statt in die Redaktion zu fahren. An ihrem üblichen Platz war sie nicht. Ich stellte die ganze Wohnung auf den Kopf. Endlich spürte ich sie auf – sie lag in der Zwischendecke zusammen mit einem dort versteckten Päckchen Euros, unserer eisernen Reserve.
    Als ich auf der Leiter stand und erleichtert denspeckigen Geruch einatmete, wurde mir schwindlig und ich fiel.
    Damals dachte ich: Das war’s, eine Fehlgeburt. Die ewige Frage der modernen Frau – austragen oder abtreiben – musste ich mir nun nicht mehr stellen. Das Schicksal hatte für mich entschieden. Vielleicht war ich in unbewusster Absicht hochgeklettert?
    Wie sieht eine Fehlgeburt wohl aus? Ich habe mal gelesen, es sei nur ein Blutklumpen. Ich ging ins Badezimmer und besah mir meine Unterwäsche. Da war nichts.
    Da erinnerte ich mich an eine Freundin, die ihr Kind mit Pfefferwodka vergiften wollte, den sie mit Zwiebelsaft angereichert hatte. Den trank sie jeden Tag vor dem Schlafengehen. Es half nicht. Sie musste eine Abtreibung machen lassen.
    Ich gehe da nicht hin. Ich kann das nicht. Das Kind soll leben.
    Nachdem ich mich entschieden hatte, das Kind zu behalten, fing ich an, die Welt anders zu sehen. Mich selbst. Die Männer. Manchmal hatte ich sogar Mitleid mit ihnen. Sehr viele Frauen erklären die Gemeinheit der Männer damit, dass sie nicht wissen, was PMS , Schwangerschaft und Geburt sind. Man sollte sie deswegen nicht beschimpfen, sondern eher bedauern, finde ich.
    Die Frau verfügt über eine Erfahrung, die dem Mann unzugänglich ist: die Erfahrung der symbiotischen Existenz, die sie während der Schwangerschaft durchlebt. Das heißt, auf der Gefühlsebene ist ihr etwas zugänglich, was jenseits der Grenzen der männlichen Welt liegt. Ein Mann wird das nie erfahren, wie sehr er auch will: die Erfahrung der Koexistenz von »Ich« und»Nicht-Ich«, wenn es keine Grenze zwischen Mutter und Kind gibt.
    Das heißt, die Palette an Lebenserfahrungen der Durchschnittsfrau ist immer reicher als die des Durchschnittsmannes. Kein Mann hat je menstruiert, war schwanger oder hat ein Kind zur Welt gebracht – diese Sphäre bleibt ihm verschlossen. Die Männerwelt wurde hingegen schon längst von den Frauen erobert.
    Frauen tragen Hosen! Frauen fliegen ins Weltall! Frauen rauchen und sitzen im Chatroom! Frauen rasieren
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