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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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spucken. Andrjuschas Rückenmuskulatur entwickelt sich prächtig. Nie wird er erfahren, was eine Nackenverspannung ist. Früher als alle anderen fängt Andrjuscha an, den Kopf gerade zu halten. Er wird mit stolz erhobenem Kopf durchs Leben gehen. Und meine Vera?
    Meiner Tochter gefällt es nicht, auf dem Bauch zu liegen. Sie fängt dann an zu schluchzen, rammt ihre Stirn in die Matratze und demonstriert mit ihrem Benehmen nur eins: Wir sind nicht athletisch und auch nicht asketisch!
    Ich will es nicht auf sich beruhen lassen. Bei jeder Gelegenheit lege ich meine Tochter auf den Bauch. Man kann nicht behaupten, dass sie darüber erfreut wäre. Aber ich finde, dass ihre Rückenmuskeln mit jedem Tag stärker werden.
    Heute ist eine nette Bekannte bei mir gewesen, die noch kein Kind hat. Ich ging in die Küche, um dem hungrigen Gast Bratkartoffeln zu machen, und wies sie vorher an, das Kind auf den Bauch zu legen. Nach drei Minuten schrie meine Bekannte aus dem Wohnzimmer:
    Â»Ira, sollten wir das nicht lassen? Es gefällt ihr nicht!«
    Â»Das ist bei ihr so, mach dir nichts draus. Massiere sie lieber!«
    Â»Ira, sie weint!«
    Â»Sie weint immer.«
    Ich briet die Kartoffeln fertig und kam ins Wohnzimmer. Was ich dort zu sehen bekam, ließ mich verzweifeln. Meine Bekannte hatte alles richtig gemacht. Sie hatte das Kind auf den Bauch gelegt und aufgepasst, dass es nicht herunterfiel. Es gab nur ein »Aber«. Sie hatte Vera nicht auf die Matratze gelegt, sondern auf den glatten Wickeltisch.
    Meine Tochter spannte ihren schwachen Säuglingshals an, hob mühsam den Kopf und stieß dann immer wieder mit der Nase gegen den harten Holzrahmen. Bumm – ein Schluchzen, bumm – Gebrüll. Bumm, bumm, bumm – Vera verschluckte sich an ihren Tränen. Meine Bekannte massierte währenddessen mit zitternden Händen ihre Fersen.
    Auf diese Weise hätte meine Tochter Vera fast eine echte Negernase bekommen.
    Ja, vieles in unserer Kindheit verdanken wir dem blanken Neid unserer Vorfahren.
    Â 
    12. August 2003
Folter
    Â 
    Meine Gesichtsmuskeln schmerzen, als hätte ich den halben Tag auf einer Galosche herumgekaut. Ein Auge zuckt nervös, das andere ist starr. Meine Hände zittern, mein Rücken ist zu einer japanischen Verbeugung gekrümmt und lässt sich nicht mehr strecken. Das ist das Resultat einer Fotosession mit meiner Tochter Vera.
    Ich finde, man sollte Kinderfotografen, die mehr als fünf Jahre ihren Beruf ausgeübt haben, heiligsprechen. Und die Hundefriseure gleich mit.
    Â 
    14. August 2003
Das Kissen
    Â 
    Eine Bekannte erzählte mir einmal, wie sie eines Tages ihren drei Monate alten Sohn in den Schlaf wiegen wollte. Sie tat es eine Stunde, dann wurden es zwei, drei, vier, dann wiegte sie ihn schon die fünfte Stunde, aber er weinte immer noch. Wobei sein Weinen keinen Grund hatte. Es tat ihm nichts weh, er hatte keinen Hunger, es war warm. Warum also sollte er nicht ein bisschen brüllen? Und so bekam die junge Mutter bereits einen nervösen Tick vom Greinen des Kleinen. Sie ging zu ihrem Mann und bat ihn, auf den Kleinen aufzupassen, solange sie ein wenig schlafe. Der Mann antwortete: »Natürlich, meine Liebe, keine Frage! Geh dich ausruhen, und ich schaue solange mit unserem Sohn fern.«
    Da seufzte die junge Mutter erleichtert und eilte ins Nachbarzimmer, legte sich aufs Sofa und schloss die Augen. Aber nach zehn Minuten schlug sie sie wiederauf, weil das Kleinkindschreien plötzlich abgebrochen war. Meine Bekannte blieb noch fünf Minuten in der absoluten Stille liegen, dann stand sie auf und ging zu ihrem Mann, um nachzuschauen, wie es ihm gelungen war, das Kind zu besänftigen.
    Er hatte es sich leicht gemacht und ein Kissen auf das Kind gelegt.
    Warum ich das hier schreibe? Mittlerweile erscheint mir dieser Vorfall nicht mehr ganz so irrational.
    Â 
    15. August 2003
Scream 1 (2, 3, 4 …)
    Â 
    Nach der dritten Stunde ununterbrochenen Schreiens wurde die Stimme meiner Tochter leiser, sie hatte die Ultraschallfrequenz erreicht …
    Â 
    18. August 2003
»Ich habe dich zur Welt gebracht …«
    Â 
    Zeigen Sie mir die Eltern, die nicht davon träumen, wenigstens einmal im Leben voller Kraft mit einem schweren Gegenstand auf ihre Brut einzuschlagen! Zeigen Sie mir diese Heiligen! Ich falle vor ihnen auf die Knie und krieche vor ihnen, das Gesicht im Staub! Nur müssen sie vorher ihre rechte
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