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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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beginnenden Schwangerschaft durch prophetische Träume oder durch ein Omen. Wenn sich, zum Beispiel, der Saum des Unterhemds einrollte, bedeutete das eine Schwangerschaft. Die Frauen gingen zu Wahrsagerinnen und Hexen, befragten Orakel und Medien, weil sie nach der Hochzeit so schnell wie möglich erfahren wollten, ob sie jetzt zu wertvollen Gefäßen geworden oder immer noch leere Kübel waren. Einigen Auserwählten brachten Engel die frohe Botschaft.
    Im Großen und Ganzen fand alles hinter einem Schleier von Heimlichkeit und Esoterik statt …
    Und jetzt? Das wichtigste Ereignis im Leben einer Frau beginnt mit einem Stück bepinkelten Papiers …
    Â»Ira, ich glaube, du bist schwanger.«
    Â»Woher willst du das wissen, ich war auch früher schon mal überfällig …«
    Â»Ich kann es nicht erklären. Hast du einen Test?«
    Â»Hab ich. Aber den sollte man besser frühmorgens benutzen.«
    Â»Mach es gleich.«
    Â»Nein, ich will nicht. Ich bin nicht schwanger.«
    Â»Warum bist du dann so nervös? Pinkle in das Becherchen, Ira.«
    Â»Nein!«
    Â»Ira, pinkle in das Becherchen. Sofort.«
    Â 
    Zwei Streifen. Beide grau. Das kann nicht sein. Jeder, nur ich nicht. Ich bin nicht bereit. Das ist noch zu früh für mich. Ich habe so vieles noch nicht geschafft! Und überhaupt, ich kann keine Kinder erziehen. Ich kann sie auch gar nicht ausstehen. Ich wollte nie welche …
    Mittlerweile gibt es immer mehr Frauen, die keine Kinder wollen. Es gibt eine Theorie, die besagt, dass unser Planet auf diese Weise gegen die Überbevölkerung kämpft.
    Â 
    Â»Ira, entscheide selbst. Aber ich bin gegen Abtreibungen.«
    Â»Und wenn ich eine machen lasse?«
    Â»Ich kenne einen Arzt. Bei ihm hat meine Exfrau ihre Abtreibungen machen lassen. Ja, und überhaupt, die kann uns alles erzählen. Soll ich sie gleich mal anrufen?«
    Â»Ich will nicht.«
    Â»Ira, denk doch mal nach, irgendwann musst du sowieso ein Kind kriegen. Ich werde Vater, du wirst Mutter. Es ist doch nichts Schlimmes passiert. Aber wenn du das Kind nicht willst, werde ich nicht darauf bestehen.«
    Ich habe noch nie eine Abtreibung machen lassen. Nicht, weil ich so moralisch bin, ich musste einfach nie. Offensichtlich gehöre ich nicht zu den Frauen, dieangeblich auch mit Pille schwanger werden. Das gab Veras Vater einen Anlass zum Stolz.
    Â»Siehst du, Ira, du hattest so viele Männer vor mir und hast nie eine Abtreibung gemacht. Das muss man sich mal vorstellen! Keine einzige Abtreibung, dabei bist du schon sechsundzwanzig!«
    Â»Ja und?«
    Â»Begreifst du nicht? Ira, ich habe deine Unfruchtbarkeit geheilt! Ohne Handauflegen! Wie der Herrgott selbst!«
    Â 
    Ich erinnere mich, dass ich vor meiner Schwangerschaft mit einem befreundeten Journalisten am Telefon über das Thema Abtreibung gesprochen hatte. Er beschäftigte sich damit, weil er gerade an einem Artikel darüber arbeitete.
    Â»Ira, für eine Abtreibung sind beide verantwortlich. Und bestraft werden müssen auch beide.«
    Â»Idealerweise schon. Aber auf welche Weise soll der Mann bestraft werden? Soll man ihn für fünfzehn Tage einsperren?«
    Â»Wozu? Die Vergeltung muss
Auge um Auge
erfolgen. Der Frau wird die Gebärmutter geöffnet, das ist klar, und dem Mann muss etwas entfernt werden, zum Beispiel ein Finger.«
    Â»Ein Finger?«
    Â»Eine Abtreibung – ein Finger, die zweite – noch einer, und bei der dritten Abtreibung ist der dritte Finger futsch.«
    Â»Ja, die Hauptsache ist, dass man die männlichen Finger danach sinnvoll weiterverwendet. Sicher sind sie wertvolles Anschauungsmaterial für die Wissenschaft.«
    Â»Genau. Und außerdem sollte sich jeder selbst aussuchen können, welche Finger abgehackt werden. Es können auch die Zehen sein.«
    Â»Selbstverständlich, schließlich leben wir in einem demokratischen Land. Jemandem laut Gesetz bestimmte Finger abzuhacken ist Totalitarismus.«
    Â 
    Ich halte Abtreibungen für eine Untat und Mord. In diesem Sinne bin ich sehr altmodisch. Aber da ich ein Mensch der heutigen Zeit bin und noch dazu Journalistin, muss ich mich dieser Verwerflichkeit gegenüber tolerant zeigen. Viele meiner Freundinnen und Verwandten haben abgetrieben, habe ich etwa das Recht, sie zu verurteilen? Natürlich nicht … Aber mich stört, dass der Löwenanteil der Verantwortung bei der Frau
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