Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
Vom Netzwerk:
schwor, die Nase sei ganz wie die ihre. Die Mehrheit meiner Freunde wiederum sagte, dass Vera völlig ihrem Vater ähnele. Besonders, was die Höhe der Ohren am Kopf betreffe. Nur in einem waren sich alle einig – dass Vera nichts von mir habe …
    Meine Leiden waren unsagbar. Ich verging vor Ungewissheit und die Ungerechtigkeit ließ mich verzweifeln. Erst heute hatte meine Not ein Ende. Um neun Uhr abends, als ich Vera in ihrer Wanne badete, weinte sie bitterlich und verbog sich, um der Folter zu entgehen.
    Mein Vater sah diese Verrenkungen und resümierte: »Ist denn das die Möglichkeit, sie mag sich nicht waschen. Ganz wie Ira, als sie klein war! Die wird genau so ein Scheißerchen.«
    Damit wurde eine Ähnlichkeit festgestellt!
    Und ich bin beruhigt.
    Â 
    29. Juli 2003
Gegen die Genetik kommt man nicht an
    Â 
    Heute hätte sich meine heißgeliebte Tochter fast selbst verstümmelt. Schuld war die Genetik. Ich war gerade im Badezimmer, als sie sich ihre Hand vollständig in den Mund steckte. Veras Großmutter brauchte an die anderthalb Minuten, um sie wieder herauszuziehen. Offenbar hatte Vera im Mund ihre Faust geöffnet.
    Ich bin überaus besorgt. Denn sofort erinnerte ich mich an einen Vorfall aus dem Leben ihres Vaters.
    Es war an einem sonnigen Maitag. Die Vögel sangen. Auf den Bänken saßen Pärchen. Veras zukünftiger Vater stand an der Metrostation
Tschistye Prudy
, spielte lässig mit seinen prallen Muskeln und rauchte. Ein junger Aikido-Apollo. Dichter, Künstler und Musiker. Ein ausgemachter Don Juan. Zyniker und Romantiker. Kampfratte der Liebe.
    Er hatte gerade nichts zu tun. Bis zum Aikidotraining blieb ihm eine Stunde. Der junge Mann holte aus seiner Hosentasche einen grünen Apfel hervor, den ihm eine seiner Geliebten fürsorglich zugesteckt hatte. Er ließ ihn auf seiner Handfläche hüpfen. Veras zukünftiger Vater verglich die Frucht mit seiner trainierten Faust. Der Apfel war klein. Eindeutig kleiner als seine Faust. Aber genauso hart. Ein Aikidokampfapfel.Man hätte jemanden damit umbringen können.
    Ob ich wohl diesen Apfel besiegen kann?, dachte der junge Mann. Ob ich ihn in einem Stück hinunterschlucken kann?, fragte er philosophisch und steckte sich die Frucht in den Mund. Der Apfel passte ideal hinein. Er hatte ihn besiegt.
    Nachdem er sich gedanklich die Bestnote erteilt hatte, versuchte der junge Mann, die Frucht wieder auszuspucken. Doch da hatte er sich verrechnet. Der Apfel saß in seinem Mund wie angewachsen. Unser Held hatte weder ein Messer noch einen Schlüssel dabei. So musste er zu Fuß zu seinen Eltern gehen, denn die Metro zu benutzen traute er sich nicht.
    Den ganzen Weg von
Tschistye Prudy
bis zum Kursker Bahnhof ging Veras zukünftiger Vater mit vorgehaltener Hand.
    Seine Mutter öffnete ihm die Tür. Sie sah ihren Sohn mit einem vor Anstrengung tiefroten Gesicht und einem grünen Apfel in dessen Mitte. Entschlossen griff sie zu einem Messer. Sie setzte an, stach in den Apfel und holte die Frucht stückchenweise heraus.
    Nun wäre alles gut gewesen, aber während des Aufenthalts des Apfels zwischen seinen Lippen hatte sich Veras zukünftiger Vater den Kiefer ausgerenkt und der Mund wollte sich nicht mehr schließen lassen.
    Der Krankenwagen kam schnell. Als der Arzt und seine Helferin die Wohnung betraten, sahen sie auf einem Stuhl den schönen Jüngling mit kunstvollen Tätowierungen auf den wohlgeformten Schultern. Sein Mund war wie bei einem verklemmten Nussknacker weit geöffnet. Um ihn herum rannte seine Mutter und hängte ihm eine Art Lätzchen um den Hals. Der junge Mannversuchte der Arzthelferin zuzulächeln. Doch stattdessen floss ihm der Speichel in Strömen über das Kinn.
    Was ich vergessen habe zu erwähnen – Veras Vater war zu diesem Zeitpunkt fünfundzwanzig Jahre alt.
    Ich bin in Sorge. Gegen die Genetik kommt man nicht an … Meine Tochter tritt in die Fußstapfen ihres Vaters. Und zwar in Siebenmeilenstiefeln. Schließlich ist sie erst zwei Monate alt! Und außerdem ein Mädchen … Was mit dem Kiefer eines Säuglings nicht alles passieren kann.
    Aber was rege ich mich auf. Vielleicht wird Vera später Zirkusdompteurin und zeigt eine Nummer, bei der Löwen und Tiger ihr den Kopf in den Mund legen.

Erinnerungen an den ersten
Schwangerschaftsmonat.
Der Countdown läuft
    Früher erfuhr man von einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher