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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss
Autoren: Anna Geller
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die Gerichte stellten, wurden immer größer und
damit die Ermittlungsarbeiten immer umfangreicher, der Schreibkram unangenehm
aufwändig.
    Hellwein, der ihr gegenüber an seinem Schreibtisch saß, stöhnte leise
und klappte einen roten Aktendeckel zu. Dann stierte er nachdenklich auf die
zerkratzte Tischplatte, stützte den Kopf in die rechte Hand und schlug die Akte
mit der linken wieder auf. Susanne beneidete ihn nicht, denn ihm machte eine
skelettierte Leiche zu schaffen, die man vor ein paar Monaten im Worringer
Bruch gefunden hatte. Da die Leiche vergraben gewesen war, lag
höchstwahrscheinlich ein Gewaltverbrechen vor. Die forensischen Anthropologen
hatten herausgefunden, dass es sich um eine weibliche Person zwischen zwanzig
und dreißig handeln musste, vermutlich asiatischer Herkunft. Mehr nicht.
Todesursache und der Zeitpunkt waren nicht eindeutig zu klären, es gab keine
verwertbaren Spuren und eine Identifizierung schien nahezu unmöglich. Ein
ziemlich aussichtsloser Fall. Und für einen Kriminalisten war nichts
frustrierender, als ohne jeden Ermittlungsansatz dazustehen.
    Susanne nahm die Lesebrille ab und fixierte den Stadtplan an der
gegenüberliegenden Wand. Das tat sie immer, wenn sie intensiv über etwas
nachdachte. Sie war lang und dürr, und als sie jetzt auf die weißen und gelben
Linien stierte, schien sie noch einmal ein paar Zentimeter zu wachsen, so
aufrecht saß sie plötzlich. Irgendetwas machte sie nervös. Vielleicht gerade
die zwei, drei Wochen relativer Ruhe, die hinter ihr lagen. War das die Ruhe
vor dem Sturm? Oder lag ihre Anspannung an der Reizlosigkeit, die ihr Job
hatte, wenn sie sich nicht in einen aktuellen Fall verbeißen konnte?
    Sofort rief sie sich zur Ordnung. Ein aktueller Fall hätte ein
Verbrechen vorausgesetzt. Und das war eigentlich das Letzte, was sich eine gute
Polizistin wünschte.
    Sie fuhr sich mit beiden Händen durch das ohnehin zerzauste braune
Haar und sah wieder zu Hellwein hinüber. Seine unverkennbare Neigung zur
Fettleibigkeit, sein sich lichtendes Haar und sein gutmütiger Gesichtsausdruck
ließen ihn wie einen biederen Verwaltungsangestellten erscheinen. Er klappte
die Akte „Worringer Bruch“ endgültig zu und legte sie auf die rechte Seite des
Schreibtischs. Von den drei überquellenden Ablagekörbchen einmal abgesehen, war
sein Arbeitsplatz ausnahmsweise nahezu aufgeräumt. Nur auf dem Computermonitor
pappten jede Menge kleiner Notizzettel mit seiner krakeligen Schrift. Da
gewöhnliche Zettelchen immer wieder davonwehten, wenn jemand zu stürmisch
vorbeiging oder das Fenster geöffnet war, beschrieb er seit Kurzem die gelben
Selbstklebenden. Warum er nicht einfach normal große Blätter für seine Notizen
nahm, wie jeder andere auch, war Susanne schleierhaft.
    Jetzt angelte er aus einem der Körbchen ein Rundschreiben des
Landeskriminalamtes und vertiefte sich darin. Wahrscheinlich eine dieser
wunderbaren Statistiken, die kein Mensch verstand oder im Gedächtnis behielt —
außer Hellwein. Er konnte die Kölner Kriminalitätsstatistiken der letzten zehn
Jahre herunterbeten, wenn es sein musste.
    „Heinz?“
    „Hm?“
    „Ist dir eigentlich klar, dass wir immer nur hinterherhinken, hier in
diesem Dezernat?“
    Hellwein hob irritiert den Kopf und schob die Ärmel seines
dunkelblauen Strickpullovers hoch. Darunter kamen die Manschetten eines
schneeweißen Hemdes hervor. „Wie meinst du das?“
    „Na ja, sieh mal: Die vom Raub machen Aufklärungskampagnen bei älteren
Leuten; zeigen hohe Präsenz auf den Weihnachtsmärkten, wenn die Taschendiebe
unterwegs sind. Die vom Verkehr machen Plakataktionen und Alkoholkontrollen.
Wir haben sogar eine eigenes Dezernat `Vorbeugung und Aufklärung´, das der
Bevölkerung Tipps gibt, wie man sich vor Verbrechen schützt. Die …“
    „Du meinst, für Mord und Totschlag gibt es keine Präventivmaßnahmen?“,
unterbrach Hellwein seine Vorgesetzte, die nervös die Bügel der Lesebrille auf
und wieder zu klappte.
    „So ungefähr, ja. Wir können immer nur reagieren, aber nicht aktiv
vorbeugen.“
    „Und?“
    Er zupfte an den Manschetten herum und lehnte sich zurück, immer noch
irritiert. Philosophieren passte so überhaupt nicht zu ihr. Härte und eine gute
Portion Sarkasmus, Humorlosigkeit, das war er gewohnt. Aber nicht die Zweifel,
die da hinter ihren Worten steckten.
    „Ich denke nur, wir Todesermittler kommen erst zum Zug, wenn es zu
spät ist“, überlegte Susanne weiter.
    „Okay, wir lassen uns zum
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