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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss
Autoren: Anna Geller
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einfach an. Nach Atem
ringend fasste er in seine Hosentasche. Chris stoppte an einer Palette
Milchreis, sah die Bewegung und wusste im gleichen Moment, was geschehen würde.
Er hätte es wissen müssen, natürlich! Der Alte hatte noch ein As im Ärmel! Für
alle Fälle. Die letzte Karte, die er ausspielen konnte, in Form eines zweiten
Feuerzeugs.
    Gebannt starrte Chris auf das winzige Flämmchen. Die Papierwurst wurde
zur brennenden Fackel und erfasste das mit Benzin getränkte Hemd. Wie in
Zeitlupe liefen die zwei, drei Sekunden, die das alles dauerte, vor ihm ab. Er
war nicht in der Lage, sich zu bewegen, sah nur auf die brennende Gestalt, die
die Arme hochwarf, als wolle sie sich ergeben. Augenblicke später explodierte
der Kanister in einer gewaltigen Stichflamme.
    Mit einem langen Satz warf sich Chris hinter die nächstbesten Kartons.
Und dann hörte er Eickboom schreien. Unmenschliche Laute, die sich in seinen
Schädel bohrten und von dort aus wellenförmig in seinem Körper ausbreiteten.
Ein entsetzlicher Gestank nach verbranntem Fleisch und verkohltem Haar breitete
sich aus. Zum zweiten Mal an diesem Tag probte der Magen von Chris die
Rebellion. Aber da er nichts gegessen hatte, blieb es bei einem heftigen
Würgen.
    Die Schreie verstummten genauso abrupt, wie sie begonnen hatten. Chris
kam auf die Beine und lugte über die Kartons. Aber hinter der breiten
Flammenwand war Eickboom nicht mehr zu sehen. Er wich vor der Hitze ein paar
Schritte zurück, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, seinem Körper eine
Handlung abzuverlangen.  Der furchtbare Gestank vermischte sich jetzt mit dem
Geruch von brennendem Holz und Papier, schwelendem Kunststoff. Seine Augen
begannen zu tränen.
    Wieder musste er zwei Schritte zurückgehen, denn das Feuer fraß sich
schnell weiter, fand Nahrung in abgestellten Paletten, Kartons, Holzwolle.
    Was hatte er vorhin gesehen? Wunderkerzen? Was passierte wohl, wenn
zigtausende Wunderkerzen auf einmal entzündet wurden?
    Das brachte ihn endlich in Bewegung. Er rannte nach vorn, stürmte die
Treppen hinauf, durch den Gang. Karin lag immer noch auf der Seite, hatte die
Augen geschlossen, rührte sich nicht.
    Erst als Chris sich mit fliegenden Fingern an ihren Fesseln zu
schaffen machte, sagte sie stockend: „Hast du ihn?“
    „Ja“, japste er, „aber wir müssen hier raus! Schnell!“
    Endlich löste sich der Knoten, aber sie blieb liegen wie sie war.
    „Karin, bitte! Wir müssen hier verschwinden!“ Instinktiv vermied er
die Worte Feuer, Brand. Erste Etage, schoss es ihm durch den Kopf. Wir können
nicht mal durchs Fenster!
    Karin stemmte sich ein wenig hoch und stöhnte. „Gib mir … zwei
Sekunden … Oh, verdammt! … Ich … zerquetsch ihm die Eier … beim … nächsten
Mal.“
    Er sagte ihr nicht, dass es kein nächstes Mal geben würde.
    „Hilf mir auf!“ Sie streckte die Rechte aus und ließ sich von ihm
hochziehen.
    Brandgeruch stieg jetzt deutlich in die Nase. Der Stock! Jetzt
brauchte sie diesen verdammten blauen Stock! Sie wäre schneller, sicherer! Er
nahm ihre Hand und zog sie mit sich durch den Gang.
    Der hintere Teil der Halle brannte lichterloh. Beißender Qualm
breitete sich aus, zog nach oben, legte sich auf die Lungen. An mehreren
Stellen zischten kleine Stichflammen empor. Wie lange würde es dauern, bis sich
die Wunderkerzen entzündeten?
    Nach vorn, zum Tor hin, war dichter Rauch, aber bis dahin hatte sich
das Feuer noch nicht gefressen. Sie durften nur die Richtung nicht verlieren,
dann müssten sie beinahe ungehindert hinauskommen. — Noch!
    Karin blieb abrupt stehen und stemmte sich mit aller Gewalt gegen
Chris, der weiter an ihr zog.
    „Nein!“, flüsterte sie. „Nein! Das ist Feuer … Feuer … Feuer tut weh,
Chris … Wir müssen gehen … weggehen …“
    Sie machte drei Schritte rückwärts und erstarrte völlig. Ihr Blick
schien durch Chris hindurchzugehen, während sich der Feuerschein in ihren Augen
brach.
    Er packte ihre Hand fester. „Karin! Wir müssen nur da vorn durch! Da
ist nichts als Rauch! Einfach durch und zur Tür raus!“
    Als einzige Reaktion trat sie noch einmal zwei Schritte zurück. „Es
tut so verdammt weh“, sagte sie. „Lass uns zurückgehen …“
    In ihren Augen spiegelte sich blankes Entsetzen.
    Sie war zehn Jahre alt.
    „Lieber Gott, verzeih mir“, murmelte Chris.
    Sein Schlag war hart und präzise. Einen Moment später zeichneten sich
die Striemen seiner Finger auf Karins Wange ab. Sie blinzelte, halb in
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