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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss
Autoren: Anna Geller
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verfolgten herrenlose Hunde, bis sie sich hoffnungslos verlaufen
hatten. Andere gingen im Trubel des Schlussverkaufs einfach verloren. Oder sie
legten sich zum Schlafen unters Bett und versetzten ihren Eltern den Schock
ihres Lebens, wenn die morgens ein „leeres“ Kinderzimmer vorfanden und die Polizei
eine Großfahndung auslöste.
    Es gab tausenderlei Unsinn, den sechsjährige Kinder anstellten. Aber
die meisten dieser Abenteuer dauerten nur wenige Stunden. Claudia Seibold aber
war seit nahezu sechszehn Stunden als vermisst gemeldet.
    Als Susanne jetzt ihren kleinen Polo in eine der wenigen noch freien
Parkbuchten bugsierte, hätte sie mit dem Kotflügel beinahe einen Betonpfeiler
mitgenommen und fluchte wie ein Kutscher. Solche Fahrfehler passierten ihr nur,
wenn sie unausgeschlafen oder mürrisch war. Heute Morgen war sie beides. Und
instinktiv wusste sie, dass noch viele Nächte mit zu wenig Schlaf folgen
würden.
    Die Einsatzbesprechung fand in der Kantine statt, dem einzigen Raum,
der genügend Platz für ein paar hundert Leute bot. In aller Eile hatte man Tische
zusammengeschoben und lange Stuhlreihen aufgebaut. An der linken Stirnseite
stand eine Leinwand. Als Susanne sich einen Platz suchte, hörte sie das leise
Summen des Projektors, der im Moment nur grell-weißes Licht an die Wand warf.
    Eine Minute vor acht rutschte Hellwein etwas atemlos auf den freien
Stuhl neben ihr. Er trug ein fliederfarbenes Hemd, einen anthrazitfarbenen
Anzug, blitzblanke Schuhe und duftete nach Rasierwasser. Verdrießlich fragte
sich Susanne, wie er es nach einem anstrengenden nächtlichen Einsatz schaffte,
so auszusehen, als käme er frisch vom Laufsteg. Sie selbst hatte gerade mal die
Kraft aufgebracht, zu duschen, die Unterwäsche zu wechseln und sich über das
stumpfe, braune Haar zu bürsten. Die Energie, über ihre Kleidung nachzudenken,
hatte sie nicht mehr. Also war sie in die ausgebeulte Jeans von gestern
geschlüpft und in den grob gestrickten Baumwollpulli, der schon seit einer
Woche über dem Stuhl in ihrem Schlafzimmer hing.
    Hans Maurer, der Kripochef, hatte die Einsatzleitung übernommen. Er
war von imposanter Größe und Breite. Das dunkle Sakko spannte an den Schultern,
und sein weißes Haar kräuselte sich im Nacken.
    Mit eckigen Bewegungen ging er zu dem Projektor. Eine Sekunde später
stand ein Bild auf der Leinwand. Susanne zuckte unwillkürlich zusammen.
    Alle Geräusche verstummten, als zweihundert Polizisten gebannt auf das
Foto eines lachenden Kindes starrten. Hellblonde Korkenzieherlocken, volle
Wangen, Grübchen neben den Mundwinkeln. Das helle Haar stand in auffallendem
Kontrast zu den dunklen, fröhlich strahlenden Augen, mit denen sie jeden im
Raum direkt anzusehen schien.
    „Großer Gott“, murmelte Susanne und spürte, wie es ihr kalt über den Rücken
lief. Das Mädchen wirkte zart und rein. Ein Engel, der versehentlich auf die
Erde gefallen war. Ein Kind „zum Stehlen schön“, wie man so sagte. Susanne zog
fröstelnd die Schultern hoch, als ihr plötzlich die Doppeldeutigkeit dieser
Redensart bewusst wurde.
     
    Ende der
Leseprobe © Anna Geller
     
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