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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld
Autoren: Gisa Klönne
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sie das umschrieben. Aber nachdem ihn ein ganzer Trupp Weißkittel eine Stunde lang durchgecheckt hatte und zu der Überzeugung gekommen war, dass die zwei Stromschocks mit dem Paralyser wohl keine dauerhaften Schäden in seinem Körper verursacht haben, hat Manni sich selbst entlassen. Auf seine eigene Verantwortung, haben die Ärzte betont.
    Manni zieht Sonjas Schlüssel aus der Hosentasche. Die Nacht ist schon weit fortgeschritten, er ist hundemüde und zugleich läuft sein Hirn heiß, immer weiter und weiter.
Karate-Do.
Der Weg der leeren Hand. Auf der Fahrt hierher hat er daran gedacht, wie ein japanischer Altmeister diesen Weg mal beschrieb. Wenn du den i. Dan schaffst, weißt du theoretisch, dass der Weg existiert. Mit dem
z.
Dan siehst du ihn, mit dem 3. Dan gehst du den ersten Schritt. Der
Sensei
hatte milde gelächelt. Und dann machst du vielleicht den nächsten Dan, und so weiter und so fort. Es hört nie auf.
    Manni geht hoch in den zweiten Stock, öffnet Sonjas Wohnungstür, zieht sie leise hinter sich zu. Er macht kein Licht, streift nur die Nikes ab und tappt auf Socken in die Küche. Es riecht gut hier, ein wenig nach irgendeinem orientalischen Gewürz, ein wenig nach Sonjas Massageöl, dessen zitroniger Duft sie immer umhüllt, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt.
    Die Laterne von der Straße wirft blaugraue Schatten durchs Fenster und gibt genug Licht für ihn. Manni wäscht sich Gesicht und Hände über der Spüle, öffnet den Kühlschrank, schenkt sich ein Glas Weißwein ein und leert es in einem einzigen langen Zug. Dieselbe Flasche wie neulich Abend. Er schenkt sich ein zweites Glas ein, stellt es auf den Tisch, schneidet zwei Scheiben Brot ab und belegt sie mit Käse und Sonjas selbstgemachter Avocadocreme. Er setzt sich an den Küchentisch und isst die Brote, betrachtet dabei die Krone der kahlen Platane vor dem Fenster, deren Äste vor Nässe glänzen. Auf dem Küchentisch liegt ein Schwangerschaftstest, zumindest glaubt Manni, dass dieser Plastikstab so ein Test ist, aber er macht kein Licht an, um das Ergebnis zu sehen.
    DU BIST TOT! war der Weckruf in den Ausbildungslagern der japanischen Kamikazeflieger während des zweiten Weltkriegs. Auch von seiner Zeit in diesem Lager hatte der alte Sensei während des Dan-Workshops erzählt. DU BIST TOT!, jeden Morgen. Und die jungen Männer sprangen aus ihren Betten, wuschen sich, zogen sich an, frühstückten und durchlebten einen weiteren Tag militärischen Drills. Ohne zu wissen, wer von ihnen an diesem Tag zu einem Flug ohne Wiederkehr abkommandiert würde. Oder am nächsten Tag, oder an dem darauffolgenden. Und sie wussten natürlich auch nicht, wie lange noch Krieg sein würde – und wer von ihnen noch übrig wäre, wenn der tatsächlich einmal zu Ende ginge. Wir standen einfach auf und lebten und dachten nicht darüber nach, wie es weitergehen würde, wie und wie lange noch, hatte der Sensei gesagt, denn hätten wir das getan, wären wir verrückt geworden.
    Manni schiebt den leeren Teller beiseite. Er hatte mit dem Karatetraining begonnen, weil er stark sein wollte. Er hatte es seinem Vater so richtig zeigen wollen, zurückschlagen, endlich, wenn der Frau und Kind wieder mal terrorisierte. Aber dann saß der Alte plötzlich im Rollstuhl und all die schönen Rachephantasien stürzten in sich zusammen, wie ein Haus aus Reispapier. Weil man keine wehrlosen Gegner schlägt, auch das hatte er inzwischen dank des Karatetrainings kapiert. Doch Fabian Bender hatte genau das getan: den eigenen Vater ermordet, hinterrücks, ohne ihm eine Chance zu geben. Und beinahe hätte er auch noch Warnholz, Judith Krieger, Manni selbst getötet, und wer weiß wen noch, hätte die Krieger mit ihrer grandiosen Kamikazeaktion keinen Erfolg gehabt.
    Manni nimmt den Plastikstab in die Hand, dreht ihn hin und her, macht noch immer kein Licht. Je besser er im Karate wurde, je besser er schießen und Jiu-Jitsu lernte und mit jeder Beförderung bei der Polizei wuchs seine Überzeugung, er hätte es im Griff. Er wollte nie mehr zurückblicken. Er wollte nie mehr diese Hilflosigkeit aus seiner Kindheit spüren. Diese beschissene, lähmende Ohnmacht, wenn es wieder losging, weil sein Vater betrunken war, oder schlecht gelaunt, oder eifersüchtig, oder zu lange im Stau gestanden hatte, oder das Essen nicht mochte, oder das Wetter, das Fernsehprogramm, irgendwas. Er hatte wirklich geglaubt, all das sei vorbei, aber das war ein Irrtum, das hat er begriffen, als er in der
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