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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld
Autoren: Gisa Klönne
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zusammenphantasiert. Mein Vater ist Missionar in Afrika. Er ist Geheimdienstler, Held, Old Shatterhand. Dein Vater ist ein guter Mann, er hat dich lieb, hat sie immer gesagt. Hier, schau, ich häng dir ein Bild des heiligen Georg über dein Bett. Der passt auf dich auf.«
    Er lacht. »Der heilige Georg! Und ich hab ihr geglaubt. Bis ich kapierte, wen sie damit meinte.«
    »Deinen Vater«, sagt Judith.
    Fabian Bender spuckt aus. »Er war die ganze Zeit hier, in Köln, ganz nah, quasi um die Ecke. Und er kommt uns nicht ein Mal besuchen. Er schämt sich zu sehr. Wir dürfen ja nicht sein. Er kommt nicht mal zu ihrer verdammten Beerdigung, sondern gibt mir stattdessen Geld. Geld! Zum ersten Mal. 1ooo Euro. Ein echter Witz. Es ist ja nicht sicher, dass er überhaupt mein Vater sei, hat er gesagt.«
    »Mein Vater ist abgehauen, als ich drei war. Er ist gestorben, ohne dass ich ihn wiedersah.« Sie muss zu Fabian durchdringen, muss die richtigen Worte finden. Sie spürt seine Erschöpfung, die rohe Verzweiflung. Er ist ganz dicht am Limit. Er wollte sich rächen. Sich. Seine Mutter. Er kann jederzeit ausflippen, sie alle erschießen.
    Rasselnde Atemzüge, schwer, irgendwo im Dunkel auf dem Boden. Warnholz oder Manni? Wie schwer sind sie verletzt, wie lange halten sie noch durch? Wieder ein Stöhnen. Manni! Jedenfalls glaubt sie, dass das Manni ist.
    »Ich frage mich manchmal, wie mein Vater wohl war«, sagt sie und schiebt sich Zentimeter um Zentimeter auf Fabian zu, die Augen fest auf die Stelle über dem Lichtkegel geheftet, an der sie sein Gesicht vermutet. »Ich kann mir nicht richtig vorstellen, wie mein Leben mit ihm gewesen wäre, aber ich seh diese Bilder: Eisessen, Ballspielen, so was. Aber sie bleiben trotzdem leer, geruchlos, stumm, sie sind immer nur Bilder.«
    Fabian Bender antwortet nicht und zum ersten Mal, seit sie die Kirche betrat, denkt sie wieder an die Mädchen. Jana und Beatrice. Wir sind doch Familie, hat er über sie gesagt. Seine Ersatzfamilie, nach der er sich so sehr sehnte. Aber etwas muss schiefgegangen sein, das Bild funktionierte nicht, war vielleicht zu lebendig oder auf eine andere Art und Weise lebendig, als er sich das wünschte, und dafür mussten die Mädchen büßen.
    Blaulicht und Martinshorn, jetzt ist Judith sicher: Draußen fahren die Kollegen vor. Aber so geht das nicht, wird ihr schlagartig klar. So geht das ganz und gar nicht. Fabian Bender wird durchdrehen, wenn die in voller Montur hier reingestürmt kommen. Er hat ja nichts mehr zu verlieren.
    Blut rauscht in ihren Ohren, alles wird dumpf. Die Zeit rast voran oder friert ein oder beides zugleich. Judith läuft los, direkt ins Licht. Es ist vollkommen verrückt und sie weiß nicht, warum sie es tut, kann das nicht erklären.
    »Gib mir jetzt die Waffe«, sagt sie, und dann hat sie Fabian Bender erreicht und nimmt ihn in den Arm. Fest, ganz fest, auch wenn der Schmerz in ihrer Hand explodiert. Und zu ihrer Überraschung wehrt er sich nicht. Steht einfach da und lässt die Walther los, und sie tritt die Waffe weg, tritt sie weit weg, exakt in dem Moment, in dem sie die Schritte ihrer Kollegen hört.
Donnerstag, 2. März
    Gott ist tot. Wer hat das gesagt? Irgendwelche Radikale der 68er Bewegung? Wahrscheinlich, ja. Gott ist tot. Ruth will das nicht denken, sie will glauben, hoffen, beten. Aber sie denkt es doch, während sie rastlos in ihrer Wohnung umhergeht. Zwei Uhr morgens ist es jetzt schon. Und sie weiß immer noch nicht, ob ihre Tochter noch lebt.
    Wo soll sie hin, was soll sie tun? Sie kann nichts tun, das ist vielleicht das Schlimmste. Sie ist nicht einmal mehr in der Lage, anderen Menschen Trost zu spenden, sich mit deren Sorgen abzulenken. Warten. Sie kann einfach nur ohnmächtig warten und sich bemühen, die schreckliche Ahnung in Schach zu halten, dass es Beatrice schlecht geht, sehr schlecht, dass sie ihre Lebenskraft verliert.
    Wieder, sie weiß nicht zum wievielten Mal in den letzten Stunden, geht Ruth auf Zehenspitzen in Beas Zimmer. Als ob das Mädchen dort liege und schlafe und Ruth nur wie früher die Bettdecke zurechtzupfen wolle. Aber das Bett ist leer, kalt und leer, das einzige Lebewesen in diesem Raum ist das Chamäleon, das mit geschlossenen Augen reglos auf seinem Kletterast hockt.
    Kurz vor Ladenschluss hat Ruth ihren Ekel überwunden und in einer Zoofachhandlung neue Heuschrecken gekauft. Genau so wie Bea es sonst immer tut, hat sie dem Chamäleon die strampelnden Insekten mit der Plastikpinzette ins
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