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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld
Autoren: Gisa Klönne
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leise.
    »Sie hätten mir einen Hinweis geben können.«
    »Nein.« Warnholz lächelt. »Fabian hatte mich als Seelsorger um Hilfe gebeten. Aber Sie waren ja trotzdem da.«
    Eine Stationsärztin eilt herein und kontrolliert die Instrumente neben dem Bett.
    »Sie müssen jetzt gehen«, sagt sie zu Judith.
    Warnholz hebt die Hand. »Was ist mit Beatrice?«
    Sie erzählt ihm, wie Ralf Meuser und die Kriminaltechniker das Mädchen am Ende doch noch in Fabian Benders Wohnung fanden. Gefesselt und geknebelt in einer winzigen Abstellkammer in der Dachschräge hinter Fabian Benders Zimmer, vor deren Zugang er eine Kommode geschoben hatte. Dass Beatrice bei Bewusstsein ist, aber noch nicht vernehmungsfähig. Dass ihre Mutter bei ihr ist.
    Doch das ist natürlich keine vollständige Antwort. Wird Beatrice Sollner verkraften, was geschehen ist? Judith wäre gern zuversichtlich, sie würde wahnsinnig gern sagen können, ja, Beatrice ist stark genug, sie wird das schaffen. Doch der Schlag, den das Mädchen erhalten hat, ist schwer. Ich konnte doch nicht zulassen, dass sie uns alles kaputtmacht, hat Fabian Bender geschluchzt. Ich wollte sie doch nicht verlieren, ich hatte doch nur noch sie, seit Jana mich verlassen hatte. Aber als Bat anfing, Löwner nachzustellen, wusste ich, früher oder später kapiert sie, dass nicht er Jana vor den Zug gestoßen hat, sondern dass ich das war. Ich hab geglaubt, ich hätte keine andere Wahl.
    Glauben. Hoffen. Wissen. Wo verläuft die Grenze dazwischen? Was ist wirklich sicher? Später denkt Judith darüber nach, während eine junge und hochmotivierte Krankengymnastin ihren linken Unterarm in eine Schale mit warmem Sand bettet. Feine Körner rieseln über Judiths Handgelenk, die Wärme löst den Schmerz. In irgendeinem Magazin hat sie mal die Fotografien von Sandkörnern unter einem Mikroskop gesehen und war fasziniert. Keins glich dem anderen. Jedes Einzelne war ein in sich perfekter Miniplanet und zugleich Teil eines Universums. So wie die Sterne, die sie in jenem längst vergangenen Sommer mit Erri betrachtete. Auf einer Decke im warmen Sand liegend, eine Weinflasche zwischen sich und immer redend, redend, redend. Sie hätten es nicht für möglich gehalten, dass sie je damit aufhören würden, dass sie sich aus den Augen verlieren würden, nie mehr wiedersehen – und doch war genau das am Ende des Sommers geschehen.
    »Machen Sie jetzt eine Faust«, fordert die Therapeutin. Judith gehorcht. Es tut weh, aber sie hält es aus und der Sand ist warm. Hätte Beatrice Fabian misstrauen müssen? Hätten Erri und Judith wissen können, dass ihr Sommerglück endlich war, hätte nicht zumindest sie, Judith, das wissen müssen, der Umzug, der sie und Erri trennte, war ja nur einer von vielen. Und wenn sie es gewusst hätten – was wäre dann geschehen? Ich bin froh, dass es diesen Sommer mit Erri gab, genau so wie er war, wird ihr plötzlich klar. Eine schöne Erinnerung, ein Teil meines Lebens. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
    Die Luft ist lau und der Himmel beinahe hell, als Judith von der Praxis zum Hauptbahnhof läuft. Der Schmerz in ihrer Hand ist verschwunden, jedenfalls für den Moment.
    Während der Zugfahrt nach Bonn denkt sie an Karl. Sie wird zwei seiner Lochkamerafotos aus Nepal in ihr Wohnzimmer hängen, wenn sie es endlich gestrichen hat, eines davon hat sie auch für Volker Ludes gekauft. Einen Fels in einem Bergsee, der aussieht, als würde er auf dem Schleier der Wasseroberfläche schwimmen. Im Hintergrund ist das Himalayamassiv kaum mehr als eine Ahnung.
    Der iPod liegt in Judiths Hand, die Kopfhörerstöpsel stecken in ihren Ohren, aber sie schaltet die Musik erst ein, als sie den Rhein erreicht. Sie hat Friend 'n Fellow für diesen Moment gewählt: Crystal. Das erste Mal, seit der Nacht in dem Haus.
    Sie kommt sich seltsam schutzlos vor, sie hat sich daran gewöhnt, immer auf der Hut zu sein, zu lauschen, auf einen weiteren Angriff zu warten.
    Judith läuft los, am Fluss entlang, zögernd erst, dann schneller, ohne sich umzudrehen. Der Jazz ist kristallklar. Gitarre und Gesang. Pures Gefühl. Der Rhein fließt und fließt.
    Elf heißt das letzte Lied dieser CD: Elfe. Kobold. Ein Lied von Schneeflocken, die die Seele berühren. Die etwas heilen, statt es zu erfrieren.
    Vielleicht hat ihr Vater den Schnee so gesehen. So oder so ähnlich. Judith hofft plötzlich, dass es so war. Nicht schmerzhaft. Schön.
    Erst als der letzte Akkord verklungen ist, schaltet sie ihren iPod aus
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