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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld
Autoren: Gisa Klönne
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Terrarium gereicht, und Penthesilea hat ihre Gabe gnädig entgegengenommen und blitzschnell hinuntergewürgt. Danach hatte Ruth das Gefühl, dass das Reptil zufrieden aussah. Seine schuppige Haut schimmerte jetzt in einem vitaleren, helleren Grün. Aber vielleicht war das reines Wunschdenken, die irrsinnige Annahme, wenn sie das Chamäleon rette, schütze sie auch ihre Tochter. Vielleicht hätte sie die Wärmelampe über Nacht brennen lassen sollen, denn nun ist alle Leuchtkraft verschwunden, das Chamäleon hat eine grauweiße Färbung angenommen, als sei es ein Geist.
    Ruth muss sich beherrschen, das Chamäleon nicht an-zustupsen, um sich zu vergewissern, dass es noch lebt. Aber vielleicht erschreckt es sich dann zu Tode? Soll sie die Wärmelampe wieder einschalten? Bea lässt sie nachts aus, Ruth hat sie nie gefragt, warum eigentlich. Ich weiß so vieles nicht, wird ihr schmerzlich bewusst. Ich weiß überhaupt nicht, wer meine Tochter eigentlich ist.
    Gott ist tot. Ruth geht zurück ins Wohnzimmer, blickt ein weiteres Mal auf die Straße. Sie kann nicht schon wieder bei der Polizei anrufen und nach ihrer Tochter fragen. Sie tun, was sie können, suchen nach Bea. Sie haben ihr versprochen, sich sofort zu melden, wenn sie etwas wissen.
    Man kann es nicht aushalten, denkt sie. Wenn ich je in einem Beratungsgespräch etwas anderes gesagt habe, dann war das falsch, entsetzlich falsch. Man kann es ganz einfach nicht aushalten, wenn das eigene Kind vor einem stirbt. Das eigene Kind, das eigene Leben, die Hoffnung auf Zukunft. Es gibt keinen Trost dafür, keine Wiedergutmachung, keinen Ersatz. Einmal, in einer Supervisionssitzung mit Hartmut Warnholz, haben sie darüber gesprochen. Wie Gott all das zulassen kann: all das Leid, all die Grausamkeit, all die Kriege und Hungersnöte und Völkermorde, die es täglich gibt.
    Gott hat beides geschaffen, das Gute und das Böse, weil es das eine ohne das andere nicht gibt, hat Hartmut Warnholz damals gesagt. Und er hat den Menschen den freien Willen gegeben. Sie können sich sowohl für das eine als auch für das andere entscheiden. Aber Gott leidet mit, wenn die Menschen leiden. Und er vergibt, wenn sie ehrlich bereuen; für diese Kraft der Vergebung hat er sogar seinen eigenen Sohn geopfert.
    Damals fand Ruth das überzeugend. Gott ist nicht der allmächtige alte Mann mit dem Rauschebart, Gott steckt in jedem Kind, in der Unschuld, in der Fähigkeit zum Mitgefühl. Doch jetzt erscheinen ihr diese Worte leer. Den Sohn opfern. Oder die Tochter. Es ist nicht möglich, denkt sie wild. Es ist einfach nicht möglich. Man opfert sein Kind nicht, wenn man es liebt.
    Unten fährt jetzt ein Polizeiauto vor, hält direkt vor ihrem Haus. Bea, Beatrice, Bat, geliebte Tochter! O bitte, Gott, bitte. Sei gnädig zu mir. Aber nur die wildlockige Kommissarin steigt aus, gemeinsam mit einem schlanken Mann, den Ruth nicht kennt, und dann gehen die beiden mit langsamen, müden Schritten auf den Eingang zu.
    Stille, unerträgliche Stille hüllt Ruth ein. Hartmut Warnholz hat manchmal davon erzählt, wie es ist, solche Polizeieinsätze zu begleiten. Wie man da ist, um zu helfen und doch eigentlich zutiefst hilflos ist, weil die Polizei mit wenigen Worten von einer Sekunde auf die andere für die Menschen, die ihnen vollkommen ahnungslos die Tür geöffnet haben, eine ganze Welt zerstört.
    Jetzt klingeln sie. Einmal. Noch einmal. Ruth geht zur Tür, drückt den Öffner. Nein, nicht sie tut das, sondern eine fremde, betäubte Person. Eine Person, die so aussieht wie sie, die es tatsächlich schafft, ihren Körper zu bewegen, im Flur zu stehen, zu warten, die Tür zu öffnen und die erstaunlicherweise die ganze Zeit betet. Bitte, Gott, bitte, Gott, bitte, bitte.
    Die Kommissarin sieht unglaublich abgekämpft aus und riecht nach Schweiß und Nikotin. Sie sagt etwas und verzieht den Mund zu einem Lächeln und der schlanke, junge Mann an ihrer Seite nickt und sieht Ruth erwartungsvoll an. Aber Ruth kann nicht hören, was sie zu ihr sagen, die Stille, die sie umfängt, ist zu absolut. Erst als die Kommissarin sie an den Schultern packt und schüttelt, dringen ihre Worte zu Ruth durch.
    »Ihre Tochter lebt, Frau Sollner, mein Kollege hier hat sie gefunden. Sie liegt im Krankenhaus und ist noch bewusstlos, aber sie kommt durch, sie wird wieder gesund. Wenn Sie wollen, bringen wir Sie jetzt zu ihr.«
    Sie wollten ihn über Nacht im Krankenhaus einquartieren, nur zur Beobachtung, für den Fall der Fälle, wie
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