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Familienbande

Familienbande

Titel: Familienbande
Autoren: Tom Sharpe
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gewiß war, nämlich der Tod. »In einer unsicheren Welt dürfen wir in der Wahrheit, jener ewigen Wahrheit, Trost finden, daß der Tod uns schließlich alle holt«, sprach er beispielsweise einer trauernden Witwe Trost zu, was schreckliche Folgen hatte. Und anschließend, in der zweisitzigen Kutsche, die er für solche Ausflüge benutzte, ließ er sich vor Lockhart über den Wert des Todes als Hüter der Moral aus. »Ohne ihn würde nichts verhindern, daß wir uns wie Kannibalen benähmen. Aber wenn man einem Menschen die Angst vor dem Tod einimpft, hat das eine herrlich heilsame Wirkung.«
Und so war Lockhart weiterhin in Unwissenheit über das Leben verblieben, während er sich ein umfangreiches Wissen über den Tod aneignete. Seinen Körperfunktionen und Gefühlen blieb es überlassen, ihn in sexuellen Fragen in ganz unterschiedliche Richtungen zu lenken. Da er mutterlos aufwuchs und die meisten Haushälterinnen seines Großvaters verabscheute, hegte er Frauen gegenüber entschieden negative Gefühle. Positiv blieb zu vermelden, daß ihm nächtliche Samenergüsse viel Vergnügen bereiteten, ohne daß er allerdings um deren Bedeutung wußte. In Gegenwart von Frauen bekam er keine feuchten Träume, und Frauen bekam er überhaupt keine.
Wie er sich so auf die Reling stützte und im Mondlicht auf die weiße Gischt hinuntersah, übersetzte Lockhart seine neuen Gefühle in die Bilder, die ihm am vertrautesten waren. Er sehnte sich danach, für den Rest seines Lebens selbsterlegte Lebewesen Jessica Sandicott zu Füßen zu legen. Mit dieser poetischen Vorstellung von Liebe begab sich Lockhart in die Kabine, wo der mit einem roten Flanellnachthemd bekleidete Mr. Flawse lautstark schnarchte, und stieg in seine Koje.
Hatte Lockharts Auftritt Mrs. Sandicotts Erwartungen beim Abendessen geweckt, so bestätigte der alte Mr. Flawse diese beim Frühstück. In einem Anzug, der bereits 1925 aus der Mode gekommen war, bahnte er sich den Weg durch unterwürfige Kellner mit einer Arroganz, die weit älter als sein Anzug war, und musterte, nachdem er mit einem »Ihnen einen guten Morgen, Ma‘am«, Platz genommen hatte, voller Abscheu die Speisekarte.
»Ich will Haferbrei«, informierte er den Oberkellner, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat, »und nicht Ihren halbgaren Matsch. Hafer, Mann, Hafer.«
»Jawohl, Sir, und danach?« »Eine doppelte Ration Eier mit Speck. Und treiben Sie ein paar Nierchen auf«, fuhr Mr. Flawse zum prognostischen Vergnügen von Mrs. Sandicott fort, die über Cholesterin genau
Bescheid wußte. »Und wenn ich doppelt sage, meine ich doppelt. Vier Eier und ein Dutzend Speckstreifen. Anschließend Toastbrot, Marmelade und zwei Kannen Tee. Der Junge bekommt das gleiche.«
Der Kellner eilte mit der tödlichen Bestellung fort, während Mr. Flawse über den Rand seiner Brille hinweg Mrs. Sandicott und Jessica musterte.
»Ihre Tochter, Ma‘am?« erkundigte er sich.
»Meine einzige Tochter«, murmelte Mrs. Sandicott.
»Gratuliere«, sagte Mr. Flawse, womit offen blieb, ob das Lob der Schönheit ihrer Tochter oder dem Einzelkinddasein galt. Mrs. Sandicott errötete zustimmend. Mr. Flawses altmodische Umgangsformen fand sie beinahe so bezaubernd wie sein Alter. Das die restliche Mahlzeit begleitende Schweigen wurde nur durch die Behauptung des alten Mannes unterbrochen, der Tee sei schwächer als Quellwasser, man möge gefälligst eine ordentliche Kanne starken Frühstückstees bringen, in dem der Löffel senkrecht stehenblieb. Doch obwohl Mr. Flawse den Anschein erweckte, er konzentriere sich auf die Eier mit Speck und den Tee, der genug Tannin enthielt, um ein verstopftes Abflußrohr zu säubern, kreisten seine Gedanken doch um andere Dinge, gar nicht so weit von denen Mrs. Sandicotts entfernt, wenn auch mit anderem Schwergewicht. Im Laufe seines langen Lebens hatte er gelernt, einen Snob eine Meile gegen den Wind zu riechen, und Mrs. Sandicotts Ehrerbietung kam ihm gelegen. Sie würde, überlegte er, eine ausgezeichnete Haushälterin abgeben. Außerdem gab es da noch ihre Tochter. Sie war fraglos ein dämliches Mädchen und paßte ebenso fraglos zu seinem dämlichen Enkel. Mr. Flawse beobachtete Lockhart aus dem Winkel eines wäßrigen Auges und erkannte die Symptome von Verliebtheit.
     
    »Schafsaugen«, murmelte er laut vor sich hin, zur Verwirrung des wartenden Kellners, der sich entschuldigte, daß so etwas nicht auf der Speisekarte stand.
»Und wer hat das behauptet?« fuhr Mr. Flawse ihn an und
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