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Familienbande

Familienbande

Titel: Familienbande
Autoren: Tom Sharpe
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Moderne war ihm auch das Automobil verhaßt. Mr. Dodd saß vorn auf dem Kutschbock, und hinten hatte man den 1910 von Mr. Flawse auf einer Reise nach Kalkutta benutzten Überseekoffer festgezurrt. Als die Pferdehufe über die kiesbedeckte Auffahrt klapperten, hing Lockhart seinen hochgesteckten Erwartungen nach. Dies war seine erste Reise in die Welt der Erinnerungen seines Großvaters und seiner eigenen Phantasie. In Hexham bestiegen sie den Zug nach Newcastle, und in Newcastle stiegen sie um nach London und Southampton. Die ganze Zeit über beschwerte sich Mr. Flawse, die London-North-Eastern-Eisenbahn sei nicht mehr das, was sie vor vierzig Jahren gewesen war, während Lockhart erstaunt entdeckte, daß nicht alle Frauen Damenbärte und Krampfadern hatten. Am Schiff angekommen, war der alte Mr. Flawse derart erschöpft, daß er aus dem Teint zweier Bahnsteigschaffner schloß, er befinde sich bereits in Kalkutta. Nur unter maximalen Schwierigkeiten und nach minimaler Kontrolle seines Passes, schaffte man ihn endlich die Gangway hinauf in seine Kabine.
»Ich werde meine Mahlzeit hier in meiner Luxuskabine einnehmen«, informierte er den Steward. »Der Bursche wird oben zu Abend essen.«
Der Steward sah den »Burschen« an und beschloß, weder zu erwähnen, daß die Kabine nicht gerade luxuriös war, noch daß Abendessen in Kabinen der Vergangenheit angehörten.
»Wir haben einen Burschen von altem Schrot und Korn in Nummer neunzehn«, teilte er anschließend der Stewardeß mit, »und wenn ich alt sage, dann meine ich alt. Würd‘ mich nicht wundern, wenn er schon auf der Titanic mitgefahren wäre.«
»Ich dachte, die sind alle ertrunken«, sagte die Stewardeß aber der Steward wußte es besser. »Von wegen. Dieser alte Knochen ist ein Überlebender, wenn ich je einen gesehen habe, und sein verfluchter Enkel kommt offenbar direkt aus der Arche, und zwar nicht aus der Knuddeltierabteilung.«
Als die Ludlow Castle den Soient hinabfuhr, speiste der alte Mr. Flawse in seiner Luxuskabine, während sich Lockhart, auffällig in Frack und weiße Krawatte gekleidet, die einmal einem größeren Onkel gehört hatten, auf den Weg in den Speisesaal der Ersten Klasse begab, wo man ihn zu einem Tisch führte, an dem bereits Mrs. Sandicott und ihre Tochter Jessica saßen. Von Jessicas Schönheit überwältigt zögerte er einen Augenblick, dann machte er einen Diener und nahm Platz.
Lockhart Flawse hatte sich nicht nur auf den ersten Blick verliebt. Er hatte sich Hals über Kopf verknallt.
     

Kapitel 2
     
    Und Jessica erging es ebenso. Ein Blick auf diesen großgewachsenen, breitschultrigen jungen Mann, der sich verbeugte, und Jessica wußte, sie war verliebt. Doch was bei dem jungen Paar Liebe auf den ersten Blick war, war bei Mrs. Sandicott Berechnung auf den zweiten. Lockharts Aufzug in Frack und Krawatte sowie sein generell gehemmtes und verlegenes Benehmen verfehlten ihre Wirkung auf sie nicht, und als er irgendwann stammelte, sein Großvater speise in ihrer Luxuskabine, jubilierte Mrs. Sandicotts Vorortseele beim Klang dieses Wortes.
»Ihre Luxuskabine?« hakte sie nach. »Sagten Sie wirklich Luxuskabine?«
»Ja«, murmelte Lockhart. »Sehen Sie, er ist neunzig, und durch die lange Anfahrt vom Herrenhaus erschöpft.«
»Vom Herrenhaus«, flüsterte Mrs. Sandicott und warf ihrer Tochter einen vielsagenden Blick zu.
»Flawse Hall«, sagte Lockhart. »So heißt der Familiensitz.«
Und wieder wurde Mrs. Sandicott in tiefster Tiefe aufgewühlt. Die Kreise, mit denen sie Umgang pflegte, hatten keine Familiensitze, und hier, in Gestalt dieses eckigen, großgewachsenen Jugendlichen, dessen von Mr. Flawse übernommener Akzent im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert wurzelte, entdeckte sie die gesellschaftlichen Attribute, nach denen sie schon lange strebte.
»Und Ihr Großvater ist tatsächlich neunzig?« Lockhart nickte. »Wie erstaunlich, daß ein Senior in dieser Lebensphase an einer Kreuzfahrt teilnimmt«, fuhr Mrs. Sandicott fort. »Fehlt er denn seiner armen Frau nicht?«
»Kann ich wirklich nicht sagen. Meine Großmutter ist 1935 gestorben«, sagte Lockhart, was Mrs. Sandicotts Herz noch höher schlagen ließ. Als sich das Essen dem Ende zuneigte, hatte sie Lockhart seine Lebensgeschichte entlockt, und beijeder neuen Information wuchs Mrs. Sandicotts Überzeugung, daß sich ihr endlich, endlich eine Gelegenheit bot, die sie keineswegs ungenutzt verstreichen lassen durfte. Besonders beeindruckt hatte sie Lockharts Geständnis,
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