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Familienbande

Familienbande

Titel: Familienbande
Autoren: Tom Sharpe
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er sei von privaten Hauslehrern unterrichtet worden. In Mrs. Sandicotts Welt gab es ganz gewiß keine Leute, die ihre Söhne von Hauslehrern unterrichten ließen. Privatschulen waren das höchste der Gefühle. Als der Kaffee serviert wurde, schnurrte Mrs. Sandicott geradezu. Jetzt wußte sie, daß es kein Fehler gewesen war, an dieser Kreuzfahrt teilzunehmen, und als Lockhart schließlich aufstand und zunächst ihr und dann Jessica beim Aufstehen behilflich war, schwebte sie mit ihrer Tochter in einem Gefühl gesellschaftlicher Ekstase in die Kabine zurück.
»Was für ein netter junger Mann«, sagte sie. »Welch entzückende Manieren, und so wohlerzogen.«
Jessica schwieg. Sie wollte den Reiz ihrer Gefühle nicht durch ein Geständnis zerstören. Lockhart hatte sie überwältigt, aber anders als ihre Mutter. Während er für Mrs. Sandicott eine erstrebenswerte gesellschaftliche Sphäre verkörperte, war er für Jessica die fleischgewordene Romantik. Und Romantik war ihr ein und alles. Sie hatte sich die Beschreibung des Flawseschen Anwesens auf der Flawse-Hochebene unterhalb der Flawse-Hügel angehört und jedem Wort eine neue Bedeutung zugeordnet, die sie den Liebesromanen entnahm, mit denen sie die Leere ihrer Jugendjahre gefüllt hatte, eine Leere, die einem Vakuum glich.
Mit achtzehn war Jessica Sandicott mit körperlichen Reizen ausgestattet, die jenseits ihrer Kontrolle lagen, und mit einem unschuldsvollen Gemüt, an dem ihre Mutter sowohl Schuld war als auch verzweifelte. Präziser gesagt, ihre Unschuld resultierte aus dem Testament des verstorbenen Mr. Sandicott, in dem dieser alle zwölf Häuser des Straßenzugs Sandicott Crescent »meiner liebsten Tochter Jessica« vermacht hatte, »sobald sie das Alter ihrer Reife erreicht«. Seiner Frau hinterließ er Sandicott & Partner, Konzessionierte Buchprüfer und Steuerberater, Wheedle Street, London. Doch das Testament des verblichenen Mr. Sandicott hinterließ nicht allein diese konkreten Posten. Es hatte Mrs. Sandicott mit einem Gefühl der Trauer und der Überzeugung erfüllt, daß der frühzeitige Tod ihres Gatten mit fünfundvierzig der unwiderlegbare Beweis dafür war, daß sie keinen Gentleman geehelicht hatte, wobei der Beweis seiner mangelnden Ritterlichkeit darin bestand, daß er die Welt nicht wenigstens zehn Jahre früher verlassen hatte, als sie sich noch in einem einigermaßen heiratsfähigen Alter befand, oder daß er ihr nicht zumindest sein gesamtes Vermögen hinterließ. Aufgrund dieses doppelten Unvermögens hatte sich Mrs. Sandicott zweierlei vorgenommen: Erstens sollte ihr nächster Gatte ein sehr reicher Mann mit einer so kurzen Lebenserwartung wie irgend möglich, vorzugsweise todkrank sein; zweitens wollte sie dafür sorgen, daß Jessica das Alter der Reife so langsam erreichte, wie es eine streng religiöse Erziehung bewirken konnte. Bisher hatte sie ihr erstes Ziel gar nicht und ihr zweites nur teilweise erreicht.
Jessica hatte mehrere Klosterschulen besucht, und der Plural deutete bereits auf das partielle Versagen ihrer Mutter hin. Zunächst hatte sie eine derart intensive religiöse Inbrunst entwickelt, daß sie beschloß, Nonne zu werden und ihre eigenen weltlichen Güter dadurch zu verringern, daß sie sie denen des Ordens hinzufügte. Mrs. Sandicott hatte sie überstürzt auf eine weniger überzeugende Klosterschule umgeschult, und eine Zeitlang sah die Lage für sie viel rosiger aus. Leider empfanden das etliche Nonnen genauso. Jessicas engelhaftes Gesicht samt ihrem unschuldigen Wesen hatten bewirkt, daß sich vier Nonnen gleichzeitig bis über beide Ohren in sie verliebten, und die Oberin zur Rettung ihres Seelenheils darauf bestand, Jessicas störender Einfluß müsse verschwinden. Mrs. Sandicotts einleuchtendes Argument, sie sei für die Attraktivität ihrer Tochter nicht verantwortlich, und wenn jemand relegiert werden müsse, dann doch wohl die lesbischen Nonnen, verfing bei der Oberin nicht.
»Ich werfe dem Kind nichts vor. Sie wurde zur Liebe geschaffen«, erklärte sie verdächtig gefühlsbetont und in direktem Widerspruch zu Mrs. Sandicotts Ansichten zu diesem Thema. »Sie wird irgendeinem braven Mann eine wunderbare Ehefrau sein.«
»Ich kenne Männer ein wenig intimer als Sie, möchte ich hoffen«, parierte Mrs. Sandicott. »Sie wird den ersten besten Halunken nehmen, der um ihre Hand anhält.«
Das war eine schicksalhaft zutreffende Prophezeiung. Um ihre Tochter vor jeder Versuchung zu bewahren und ihre eigenen
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