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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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den Wänden, Gardinen aus grünem Tüll mit Plastikblumen zu einer Sommerwiese arrangiert, eine Saxophonsammlung, ein Hochbett mit zwei Kopfkissen, die Wäsche auf Körbe verteilt. In der Küche nicht der erwartete Berg schmutziges Geschirr. Jens lud mich zu einer Tasse Kaffee, Klara zu einer kleinen Dose Futter ein. Jeder Hund bekam ein bemaltes Tonschälchen hingestellt, sie fraßen beide gierig. Als es zweimal klingelte, liefen Jens und Klara an die Wohnungstür; er, um zu öffnen, sie, um pflichtgemäß zu bellen. Eigentlich wäre das Machos Pflicht, dachte ich, hier in seinem Reich nach dem Rechten zu sehen. Aber er achtete nicht auf den Postboten, sondern machte sich blitzschnell über Klaras Fressen her. Als sie wieder in der Küche erschien, schluckte er heuchlerisch weiter an den eigenen Brocken. Klara merkte nicht, daß ihr Napf so gut wie leer war.
    Jens, dem ich von der kriminellen Tat seines Lieblings berichtete, wußte ähnliche Geschichten aus dem Tierreich zu erzählen. Er habe im Fernsehen einen Film über eine bestimmte afrikanische Vogelart gesehen. Diese Vögel hatten einen Wächter, der beim Vertilgen saftiger Früchte eines tropischen Baumes nicht mithalten durfte, sondern den Kopf nach allen Richtungen wenden und bei Herannahen eines Feindes einen Warnschrei abgeben sollte. Natürlich mußte jeder einmal Wächter spielen, damit es gerecht zuging. Aber es gab gelegentlich schwarze Schafe unter den bunten Vögeln: Der Schrei wurde zwar ausgestoßen, der Schwarm flog erschreckt davon, aber der Feind fehlte, und der falsche Wächter konnte sich ohne Konkurrenz vollfressen.
    Als engagierter Tierfreund hatte er auch von anderen interessanten Verhaltensforschungen gelesen. Als ich einmal behauptete, Klara habe sich voll Eitelkeit im Rückspiegel betrachtet, erfuhr ich, daß nur unsere Vettern, die Menschenaffen, dazu fähig sind. »Woher will man wissen, ob sich eine Schimpansin in ihrem Spiegelbild wiedererkennt oder nur wie ein Wellensittich einen beliebigen Artgenossen darin sieht?« fragte ich.
    Jens erklärte mir, daß die Forscher zu diesem Zweck bei Spiel und Spaß dem Affen einen roten Punkt auf die Stirn gemalt hätten. Viel später erst wurde ein Spiegel gebracht. Ein gebildeter Affe, der sich schon früher im Spiegel bewundert hat, bemerkt sofort, daß da etwas nicht stimmt. >Mein Gott, wie sehe ich nur aus, das ist mir geradezu peinliche, scheint er zu denken. Auf der Stelle wird er versuchen, das Schandmal abzuwischen.
    Wenn ich in die dunklen Augen von Jens schaute, dann war mir klar, daß ich mich bis über beide Ohren in ihn verliebt hatte, genau wie meine Hündin in den gelben Macho. Anfangs wollte ich das vor mir selbst herunterspielen. Ich bin kinderlos, dachte ich, nun habe ich mir ein reichlich großes Baby angelacht, wahrscheinlich brauche ich einen Gegenpol zu meinem alternden Oswald. Aber das war es nicht. Jens war jung, aber kein Kind. Und seine dunklen Augen waren tief wie das Meer - du liebe Zeit, wie hatte es mich erwischt, daß ich zu derart trivialen Vergleichen fähig war. Eine meiner Freundinnen behauptete, daß das bewußte siebte Jahr wirklich kritisch sei, denn fast jeder Mensch müsse sich alle sieben Jahre sowohl häuten als auch neu verlieben. Von der Zeit her stimmte es also, daß Oswald ausgedient hatte. Aber ich war mir nicht sicher, was Jens für mich empfand, schließlich war ich seine Vorgesetzte, ich war sechzehn Jahre älter, wir sagten noch nicht einmal »du« zueinander, und er hatte eine junge Freundin. Ich müßte vor Scham vergehen, wenn er mich verblüfft zurückweisen würde. Also blieb es vorerst bei gemeinsamen Spaziergängen. Aber immer wieder versuchte ich, Macho zu streicheln, wenn er sich dicht an seinen Herrn schmiegte.
    Klara wußte Bescheid und hielt zu mir. Das ging so weit, daß sie eines Tages nach Oswald schnappte. Er war fassungslos und trat ihr in den Hintern. Ich ergriff Partei für meinen Hund, der es »gar nicht so gemeint hatte«. Aber Klara entschuldigte sich keineswegs, kroch weder gekränkt in ihren Korb, noch warf sie sich demütig vor ihrem Herrn in den Staub und bot ihm Bauch und Kehle dar. Fast schien sie sich über unseren Streit zu amüsieren, ja ich meinte, sie grinsen zu sehen. Im übrigen war sie überzeugt davon, unter meinem Schutz zu stehen. Wir hatten einen neuen Leitwolf, von dessen Existenz Oswald nichts ahnte.
    Als wir beide - die Hündin und ich - am nächsten Morgen ins Krankenhaus fuhren, sprach ich auf sie
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