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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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daß er zu spät kommen würde. »Bis morgen um die gleiche Zeit«, sagte ich, und wir lachten glücklich. Dann rief er nach Macho; wir hatten die Hunde ganz vergessen. Leider kam Jens diesbezüglich erst recht zu spät, die Tiere trieben es im Wohnzimmer und waren vorerst nicht zu trennen. Macho stand mit den Hinterbeinen auf Oswalds Fußschemel, wodurch er geschickt seine fehlende Höhe ausglich.
    Nach einem Monat fiel es selbst Oswald auf, daß Klaras Appetit unersättlich wurde. »Hast du etwa nicht aufgepaßt?« fuhr er mich an. Beim Leben meiner Großmutter beschwor ich unsere Unschuld, aber heimlich gab ich Klara Lebertran, Kalzium und gelegentlich ein Ei ins Futter.
    Jens feierte gestern seinen Abschied vom Krankenhaus. Sicher, die Universitätsstadt liegt nicht aus der Welt, aber er will in eine Wohngemeinschaft ziehen und seine Heimat einschließlich der Freundin und der Adoptiveltern verlassen. Klara wird Macho nicht mehr treffen, ich werde keine Mittagspausen auf der Wiese verbringen. Wir sind etwas betrübt, aber nicht allzu sehr, denn wir sehen beide Mutterfreuden entgegen.
    Klaras Junge werden niedliche bunte Hündchen werden, vielleicht mit gelben Punkten auf dem dunklen Fell. Beim Anblick meines Babys wird Oswald große Augen machen: Ich rechne mit einem verdammt brünetten Teint.
    Das Wunschkind
    Es fiel mir etwas schwer, meine Mutter in Kenntnis zu setzen, aber da wir in derselben Kleinstadt lebten, ließ sich meine Schwangerschaft über kurz oder lang nicht verheimlichen. »Na, so was«, staunte sie, »wer ist der Vater, und wann ist die Hochzeit?«
    Derartige Fragen hatte ich erwartet. Da ich aber auf keinen Fall über den Kölner Karneval sprechen wollte, sagte ich nur: »Es wird überhaupt nicht geheiratet.«
    Mutter lächelte weise und behauptete: »Verstehe.«
    Später sah ich, daß sie unter dem Eßtisch mit den Fingern herumzählte und sich den Empfängnistermin ausrechnete. »Also im Urlaub! Er ist wohl schon verheiratet«, murmelte sie und war von dieser Erkenntnis offenbar nicht allzu schockiert. Nach dem dritten Glas Rotwein schien sie sich sogar zu freuen. »Weißt du was«, sagte sie, »es ist aber auch höchste Eisenbahn! In deinem Alter hatte ich schon fünf.«
    Damals, Anfang der sechziger Jahre, kam man bei einer Schwangerschaft mit drei Arztbesuchen aus, von Ultraschall war noch nicht die Rede. Schließlich war es keine Krankheit, wenn man ein Kind bekam. Auch meine 39 Jahre schienen für den Arzt kein nennenswertes Risiko zu sein, er meinte sogar anerkennend: »Ein kräftiges Kind, sicher wird es ein Junge.«
    Sohn oder Tochter, das war mir völlig egal. Das Strampeln kam mir allerdings ungeheuer kraftvoll vor, die Tritte eines Embryos hatte ich mir sanfter vorgestellt. Als ich meine Mutter befragte, lachte sie mich aus und beruhigte mich. Ein lahmes, faules, temperamentloses Wesen wolle ich doch sicher nicht zur Welt bringen. So gesehen war mir ein kleiner Fußballer natürlich lieber; doch manchmal hatte ich den Verdacht, es wären womöglich sogar zwei, die sich um den Ball rauften.
    Noch bevor der letzte Untersuchungstermin anstand, setzten bei mir die Wehen ein. Sie kamen sechs Wochen zu früh, mein Kind schien ungeduldig zu drängeln, möglichst schnell sein warmes Nest zu verlassen. Ins Krankenhaus fuhr mich meine Mutter, die viel aufgeregter war als ich. »Beim ersten Mal dauert es manchmal lange«, sagte sie, »aber raus kommen sie immer.«
    Die Hebamme machte ein nachdenkliches Gesicht. »Da müssen Sie sich verrechnet haben, das kann kein Frühchen sein«, sagte sie, »es ist ungewöhnlich groß.« Es entging mir nicht, daß sie meine Mutter vielsagend anblickte.
    Als der Arzt erschien, riet er sofort zu einem Kaiserschnitt. Mutter nickte ergeben, ich wurde nicht gefragt. In der kurzen Zeit bis zum Beginn der Narkose liefen mir unaufhaltsam die Tränen übers Gesicht, und ich wollte die Hand meiner Mutter nicht mehr loslassen. Sie durfte aber nicht im OP bleiben.
    Als ich aufwachte, saß sie neben mir. Ich schloß sofort wieder die Augen, aber in mir arbeitete es: Der Gesichtsausdruck meiner Mutter war alles andere als der einer glücklichen Oma. Sie strich mir übers Haar. »Schlaf weiter«, flüsterte sie.
    Doch irgendwann löste ich mich aus meinen verworrenen Träumen und fragte mit pelziger Zunge: »Wo ist es?«
    Sie sah mich so seltsam an, daß ich plötzlich glaubte, mein Kind sei tot zur Welt gekommen. Ich schrie das halbe Krankenhaus zusammen. Schließlich
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