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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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mein Sohn seinem Tagebuch an.
    Selbstverständlich muß man davon ausgehen, daß sich sehr viele junge Menschen mit dieser Frage herumquälen. Die eigene Identität ist noch nicht geklärt, die Sorge, wie wohl die Eltern über ihre eventuelle Homosexualität urteilen würden, bereitet schlaflose Nächte. Hatten wir je über solche Probleme gesprochen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, meine Antipathie gegen widernatürliche Praktiken auch nur ein einziges Mal geäußert zu haben.
    Aber jetzt gelang mir ein Bravourstückchen der Verstellung, denn ich brachte bald darauf die Rede auf einen lieben Jugendfreund in Amerika, den es zwar in der Realität nicht gab, über dessen Schwulsein ich aber völlig beiläufig und unbefangen sprach. Holger konnte aus meinem Bericht mühelos entnehmen, daß ich überhaupt keine Probleme mit Homosexualität hatte, sondern sie für eine normale Möglichkeit menschlicher Beziehungen hielt und sie respektierte.
    Zwei Tage später las ich: In Mathe kriege ich wahrscheinlich eine Fünf, Mama wird sich wahnsinnig aufregen.
    Beim Zwiebelschneiden und Speckauslassen sprach ich ganz nebenbei über meine eigenen Zeugnisse und erzählte ihm, wie sehr ich vor den Wutausbrüchen meines strengen Vaters gezittert hatte. Zum Glück sei das ja heute anders, sagte ich, sicher hätten seine Klassenkameraden - ebenso wie er selbst - keine Prügel zu befürchten.
    »Das nicht gerade«, meinte er, »ihr habt subtilere Methoden, um uns fertigzumachen.«
    Nichts macht mir mehr Angst als Liebesverlust, und ich erkannte in Holgers Worten eine Drohung. Als das fatale
    Mangelhaft tatsächlich im Zeugnis stand, zuckte ich nicht mit der Wimper.
    »Halb so schlimm«, tröstete ich und lud Holger zu McDonald’s ein.
    Fast alle haben einen eigenen Laptop, las ich, oder dürfen zumindest den ihrer Eltern benutzen. Mama ist in dieser Hinsicht leider eine Niete.
    Das war allerdings richtig, denn bisher hatte ich nie einen Anlaß gehabt, mich mit Computern zu beschäftigen. Es mag daran liegen, daß ich wesentlich älter bin als die Väter und Mütter von Holgers Klassenkameraden. Aber ich sah ein, daß ich egoistisch war; man durfte seinen Kindern nicht den Zugang zu modernen Medien verbauen. Also begleitete ich meinen Sohn in ein Fachgeschäft und bezahlte anstandslos ein ziemlich teures Gerät, mit dem ich nichts anfangen konnte. Aus pädagogischen Gründen bestand ich jedoch darauf, daß ich offiziell als Besitzerin fungierte. Bereits in der darauffolgenden Nacht kamen mir jedoch Bedenken. Wie, wenn Holger nun alle Aufzeichnungen auf seiner Festplatte speicherte und es nie wieder möglich war, auf diskrete Weise seine Ängste, Wünsche und Sehnsüchte zu erfahren?
    Vielleicht hätte ich mißtrauisch werden müssen, daß es trotzdem bei den handschriftlichen Eintragungen blieb. Ein einziges Mal, als er sein Handy in der Küche vergessen hatte und die Treppe hinunterlief, konnte ich rasch in sein Zimmer huschen und einen Blick auf den Bildschirm werfen. Der Computer war diesmal noch eingeschaltet, und ich konnte überfliegen, was mein Sohn notiert hatte. Leider handelte es sich um eine Liste, mit der ich nichts anzufangen wußte. Regelmäßige Einnahmen und Ausgaben waren ordentlich vermerkt, Daten und wohl die Initialen irgendwelcher Personen aufgeführt. Als ich Holger trapsen hörte, verschwand ich ebenso lautlos, wie ich gekommen war.
    Immerhin wuchs in mir der Verdacht, mein Sohn könnte brisante Geheimnisse verbergen. Am nächsten Schultag, wo er laut Stundenplan bis zum Nachmittag nicht zu Hause war, begann ich mit einer umfassenden Razzia.
    Auf einem Elternabend hatte uns Holgers Klassenlehrer über die Gefahren von Designerdrogen und DiscoCocktails aufgeklärt, wofür Jugendliche in diesem Alter leider sehr empfänglich seien. Eine der Mütter, die ich wegen ihrer übertrieben liberalen Meinungen wenig schätze, fuhr mich anschließend nach Hause. »Von Haschisch war seltsamerweise nicht die Rede«, sagte sie und erzählte, daß ihr Sohn Gras rauche, ein reines Naturprodukt und längst nicht so gefährlich wie jenes Zeug, vor dem der Lehrer gewarnt habe. In ihrer eigenen Jugend habe sie auch alles ausprobieren müssen.
    Da sich Holger nie in Diskotheken herumtrieb, hätte auch ich Haschisch erwartet, als ich auf die Plastiktütchen stieß. Aber worum mochte es sich bei diesen namenlosen Pillen handeln? Tranquilizer, Anabolika, Halluzinogene, Weckamine? Am ehesten Appetitzügler, beruhigte ich mich
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