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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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selbst.
    Nach dieser Entdeckung wollte ich mich fast schon wieder der liebevollen Dekoration einer Schwarzwälder Kirschtorte widmen, als ich fast zufällig in den ausgedienten Kachelofen griff. Seit langem wurde er nicht mehr befeuert und diente Holger als Schuhschrank. Ich muß gestehen, daß ich einen leichten Ekel vor den Turnschuhen pubertieren-der Knaben habe, selbst wenn es sich um die des eigenen Sprößlings handelt. Unter einem kunterbunten Gemenge unterschiedlicher Treter angelte ich einen artfremden Gegenstand hervor. Es war eine Brieftasche aus rehbraunem
    Leder, weder neu noch alt, weder teuer noch billig. Ich setzte mich auf die Ofenbank und öffnete die Börse, die auf jeden Fall nicht aus meinem Haushalt stammte. Innen befanden sich ein Führerschein, ein Personalausweis, eine Kreditkarte und etwa vierhundert Euro. Der Name des Besitzers, Matthias Rinkel, kam mir bekannt vor. Nach einigem Nachdenken erinnerte ich mich, daß es Holgers Sportlehrer war. Dabei hatte ich meinem Sohn schon vor längerer Zeit ein ärztliches Attest besorgt, um ihm die demütigende Turnstunde zu ersparen.
    Mein Junge dealte und stahl. Sollte ich einen Psychologen einschalten? Besser als ein studierter Seelenklempner kann eine Mutter die Gedanken ihres Kindes lesen. Holger war kein schlechter Mensch, sondern stand vermutlich unter dem Einfluß einer kriminellen Bande. Ich beschloß, nach bewährter Methode vorzugehen, und sprach zwei Tage später von einem eigenen Jugenderlebnis, das ich mir zugegebenermaßen bloß ausgedacht hatte.
    Holger hörte sich die Geschichte vom Sparstrumpf seiner Urgroßmutter mit unbewegtem Gesicht an. »Wieviel Kohle war drin?« fragte er.
    »Genug, um mir endlich einen eigenen Plattenspieler zu kaufen«, sagte ich, »aber ich wurde schließlich doch von Skrupeln geplagt. Meine Oma hatte ja ebenfalls Pläne, was sie mit diesem Geld anfangen wollte. Sie brauchte dringend einen neuen Kühlschrank.«
    »Und?« fragte Holger und stopfte sich fünf Scheiben Serrano-Schinken in den Mund.
    »Nach einigen Tagen habe ich Omas Ersparnisse klammheimlich wieder unter ihre Matratze gelegt«, sagte ich, »und glaube mir! Ich war glücklich und erleichtert über diese Entscheidung.«
    Holger gähnte. »Und der CD-Player?« fragte er.
    So etwas gab es damals noch gar nicht, belehrte ich ihn, aber es sei wie ein Wunder gewesen, daß mir meine Oma zu Weihnachten den ersehnten Plattenspieler geschenkt habe.
    Als ich ein paar Tage später das Tagebuch aufschlug, kamen mir fast die Tränen. Als alleinerziehende Mutter hat man es nicht immer leicht, aber nun war ich bestimmt auf dem richtigen Weg. Habe die Brieftasche in R.s Schließfach geworfen und kann endlich wieder ruhig schlafen. Ohne es zu ahnen, hat mir Mama dabei geholfen.
    Das Corpus delicti lag tatsächlich nicht mehr im Versteck. Auch schien mir fast, als hätte Holger sein Schuhlager ein wenig aufgeräumt. Einen winzigen Anflug von Verdacht habe ich damals gleich wieder verdrängt, obwohl es eigentlich auf der Hand lag, daß er bei seinem reumütigen Eintrag ein bißchen dick aufgetragen hatte.
    Das war ihm aber wahrscheinlich selbst schon aufgefallen, denn er schrieb kurz darauf von einem Vergehen, das ich bei Gott nicht ernst nehmen mochte. Blumen auf dem Friedhof zu pflücken ist zwar nicht die feine englische Art, kann aber sicherlich als Jugendsünde zu den Akten gelegt werden. Ich verkniff es mir, von eigenen geringfügigen Delikten zu sprechen. Im Grunde war ich davon überzeugt, daß er den Frühlingsstrauß einer Angebeteten überreichen wollte, und das hatte schließlich eine sehr charmante, ja erfreuliche Komponente.
    Kurz darauf verlangte er Geld für ein T-Shirt, denn das alte sei ihm zu eng geworden. Bei unserem abendlichen Entenbraten hatte er das neue bereits an. Auf rosa Untergrund glitzerte mir eine silberne Inschrift entgegen: I HATE MY MA. Über seinen skurrilen Humor hätte ich mich kranklachen können, aber ich verzog lieber keine Miene.
    Vielleicht enttäuschte es ihn, daß ich weder auf den entwendeten Grabschmuck noch auf das T-Shirt reagiert habe. Als ich das nächste Mal sein Tagebuch aufschlug, erkannte ich aber mein listiges Söhnchen wieder und mußte schmunzeln. Er hatte mein Spiel genauso durchschaut wie ich das seine. Und weil er sich wünschte, daß ich sein geniales Tagebuch auch weiterhin las, erfand er haarsträubende Lügengeschichten und bezichtigte sich sogar, bei Folterungen mitgewirkt zu haben.
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