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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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sieht man täglich, wie überall auf der Welt Greueltaten begangen werden, sei es von perversen Menschenfressern, sei es von fanatischen Selbstmordattentätern. Obwohl Holger ja Tag für Tag in der Schule hockte, schilderte er doch ausführlich, wie er in einem anderen Erdteil an bestialischen Verbrechen teilnahm. Ein sensibler Junge war er schon immer gewesen, nun schickte er sich offenkundig an, alle Schuld der Welt auf sich zu laden.
    Wollte er womöglich seine realen Missetaten durch erfundene Geschichten ad absurdum führen? Ich nahm es nicht besonders ernst, daß er jetzt in die Rolle eines Monsters schlüpfte. Durch einen Kindskopf ließ ich mich auf keinen Fall provozieren; Gelassenheit war von jeher meine besondere Stärke. Allerdings habe ich es mir von da an völlig verkniffen, auf seine geschmacklosen Botschaften auch nur andeutungsweise einzugehen - dummes Geschwätz muß man einfach ignorieren.
    Eines Tages las ich: Demnächst werde ich Kikki umbringen.
    Dieser Satz gefiel mir gar nicht. Kikki war kein Phantom, sondern ein geistig zurückgebliebenes Mädchen aus unserer Straße, zwei Jahre älter als Holger. Täglich wurde sie von einem Bus zur Behindertenwerkstatt gefahren und nachmittags wieder heimgebracht. An freien Tagen lun-gerte sie gern vor ihrem Elternhaus herum und sprach Passanten an. Da sie arglos und gutmütig war, ließen sich viele auf einen kleinen Plausch ein, wenn ich persönlich auch keine Lust dazu hätte. In der Nachbarschaft munkelte man, daß Kikki neuerdings Interesse am anderen Geschlecht zeige. Wahrscheinlich hatte Holger das läppische Gegurre auf die Palme gebracht, was von einem Gymnasiasten auch nicht anders zu erwarten war. Ich konnte seine Abneigung gut nachvollziehen und hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, daß er seine Aggressionen bloß verbal abreagieren wollte. Deswegen hielt ich es zunächst für überflüssig, die Rede auf Kretins zu bringen.
    Zwei Wochen später las ich in der Zeitung, daß Kikki vermißt wurde, und konnte es anfangs kaum glauben. Aber meine strapazierten Nerven hatten mir keinen Streich gespielt, unter dem abgebildeten Foto stand tatsächlich Erika Dietrich. Die Bevölkerung wurde gebeten, auf ein Mädchen im blauen Anorak zu achten, das älter war, als es den Anschein hatte. Nach Kikkis Verschwinden fühlte ich mich tagelang überfordert und ratlos und wagte nicht, meinem Sohn in die Augen zu sehen.
    Heute früh mußte ich lesen, daß man Kikkis Leiche im Stadtwald gefunden hat, kann mir aber immer noch nicht vorstellen, daß mein Sohn etwas damit zu tun haben könnte. Ich weiß ja aus Erfahrung, daß Holgers Selbstbezichtigungen immer nur haltlose Phantastereien waren.
    Doch kann ich mich wirklich darauf verlassen? Seit einer Stunde sitze ich nun schon am Küchentisch und grübele, ob es nicht eine einleuchtende Erklärung für Holgers Mordandrohung gibt. Hatte er die Tat vielleicht beobachtet oder die Leiche noch vor der Polizei entdeckt?
    Aber leider erweisen sich meine psychologischen Argumente als haltlos, denn Kikki wurde ja noch gar nicht vermißt, als Holger ihren Tod ankündigte. Hals über Kopf renne ich in Holgers Zimmer. Ich muß mich noch einmal vergewissern, ob ich jenen verhängnisvollen Satz wirklich gelesen oder alles nur geträumt habe.
    Das Tagebuch liegt nicht in der Schublade. Zum ersten Mal steht sie offen und ist leer, aber im Kachelofen werde ich fündig. Dort entdeckte ich auch Holgers erdverkrustete Handschuhe und eine kleine Bernsteinkette. Nach fieberhaftem Blättern komme ich an die richtige Stelle im Tagebuch. Holger hat heute nur einen einzigen Satz an mich gerichtet: Und als nächste bist du dran!
    La Barbuda
    Mein Name ist Magdalena Ventura, aber seit mich der Spanier Ribera gemalt hat, nennen sie mich alle nur noch: La Barbuda, die Bärtige. Bis zu meinem 37. Lebensjahr war ich eine Frau wie jede andere. Meine drei Kinder waren fast erwachsen und gut geraten, mein Mann und ich konnten trotz schwerer Arbeit ganz zufrieden mit unserem Leben sein. Ob mich der liebe Gott oder der Teufel strafen wollte, vermag ich nicht zu sagen, aber ich will mich nicht durch Flüche versündigen. Eines Tages entdeckte ich, daß mir die Haare an der Stirn ausfielen, gleichzeitig aber am Kinn zu sprießen begannen. Anfangs scherzten wir noch darüber, aber bald wurde mir die Sache unheimlich.
    In unserem Städtchen in den Abruzzen gibt es zwar keinen Medikus, jedoch eine tüchtige Hebamme. Seit meinen Schwangerschaften bin ich
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