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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen
Autoren: Ingrid Noll
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eine ganz eigene Methode entwickelt, rückwärts an die Toilette heranzutreten und sich breitbeinig über dem Klobecken aufzustellen. Im Gegensatz zu vielen erwachsenen Männern ging bei ihm nie ein Tropfen daneben. Bei seinem großen Geschäft pflegte er den Komposthaufen im Garten anzureichern.
    Als Arnold vier wurde, meinte Mutter, es sei jetzt Zeit für den Kindergarten. »Es ist nicht gut, wenn ein Junge bloß in Gesellschaft zweier alter Frauen aufwächst.« Ich verzieh ihr die kleine Bosheit und meldete Arnold im Städtischen Kindergarten an.
    Natürlich wollte ich die Leiterin nicht im unklaren lassen, was es mit Arnolds Besonderheiten auf sich hatte. Sie wich entsetzt zurück. »Aber ich bitte Sie! Der Junge gehört unter allen Umständen in eine Tagesstätte für behinderte Kinder!«
    Ich versicherte, daß Arnold seinen Altersgenossen in mancher Hinsicht sogar überlegen sei.
    »Kann er mit dem Löffel essen?« fragte sie, was mich geradezu beleidigte.
    »Nun gut«, sagte sie, »kann er seine Schuhe zubinden?«
    »Arnold braucht keine Schuhe«, sagte ich.
    Um es kurz zu machen: Die Kindergärtnerinnen waren schnell überzeugt, daß Arnold ein Gewinn für die ganze Gruppe war. Zwar überragte er sogar die Größten seines Jahrgangs um doppelte Haupteslänge, aber das war nie ein Grund für ihn, seine Kräfte an anderen auszulassen. Ganz im Gegenteil, er war ein zärtlicher Schmuser und wirkte selbst auf die wildesten Rabauken besänftigend und ausgleichend. Auch seine intellektuellen Fähigkeiten erwiesen sich als erstaunlich. Arnold malte fröhliche und originelle Bilder, er sang glockenrein und merkte sich selbst die längsten Texte. Einzig bei den Klettergeräten konnte er nicht immer mithalten, dafür stürmte er aber beim Wettrennen allen anderen Kindern davon. Als Arnold sechs wurde, gab es keine Einwände, ihn einzuschulen.
    Schon nach drei Monaten wurde ich zu seiner Klassenlehrerin gerufen. Es war eine prüde ältere Dame, ich konnte mir schon denken, daß sie an Arnolds partieller Nacktheit Anstoß nehmen würde. Aber so war es nicht.
    »Ihr Sohn ist außergewöhnlich musikalisch«, sagte sie, »bei einem Erstkläßler habe ich noch niemals ein derartiges Talent beobachtet. Ich würde dringend empfehlen, schon jetzt mit qualifiziertem Musikunterricht zu beginnen, in Frage käme auch die Teilnahme an einem Knabenchor.«
    Doch als sie sich Arnold bei den Thomanern vorstellte, kamen ihr doch Zweifel.
    Mein Sohn entschied sich für Schlagzeug und verdiente schon mit 16 Jahren Geld mit seiner Band. Da er fast jedes Wochenende in Jugendzentren und Schülerdiscos auftrat, konnte er einiges auf die hohe Kante legen. Wofür er allerdings so eisern sparte, verriet er mir nicht.
    Das Abitur bestand er mit Auszeichnung. Zur Feier hatte der Leistungskurs Musik, als dessen Star er galt, ein reichhaltiges Programm erarbeitet. Zwar konnten auch seine Mitschüler mit netten Darbietungen überzeugen, aber der absolute Höhepunkt kam erst beim Finale.
    Am Flügel saß ein Mitschüler in dunkelblauem Blazer. Ein ungläubiges Raunen ging durch die Reihen der Eltern, Tanten und Großmütter, als Arnold - selbstbewußt und in vollkommener Nacktheit - die Bühne betrat. Sein muskulöser Oberkörper schimmerte golden, sein braunes Fell war von meiner Mutter unermüdlich gestriegelt worden, seine Hufe glänzten frisch poliert, in die dunklen Schweifhaare hatte ich weiße Rosen geflochten. Mein kleiner Zentaur war so atemberaubend schön, daß mir die Tränen kamen.
    Arnold hatte eine Ballade von Carl Loewe einstudiert. Bei der Zeile Komm wieder, Nöck, du singst so schön blieben auch die Augen der anderen Gäste nicht mehr trocken.
    »Ich prophezeie ihm eine ganz große Sängerkarriere«, sagte meine Nachbarin, und der Beifall wollte überhaupt nicht enden.
    Mein Sohn und ich waren unendlich glücklich, als wir den Heimweg antrabten. In mein Auto paßte Arnold schon lange nicht mehr, aber wozu auch? Ich saß gern auf sei-nem Rücken und ließ mich durch die Sternennacht zurück nach Hause tragen.
    Die stolze Großmutter hatte ihrem Lieblingsenkel ein Geldgeschenk überreicht. Wenn Arnold seine Ersparnisse dazulegte, konnte er sich endlich seinen Herzenswunsch erfüllen: eine junge Stute.
    Maiglöckchen zum Muttertag
    Mein Vater hat erst mit zweiundfünfzig Jahren geheiratet, aber nicht etwa zum wiederholten Mal. Es war auch kein blutjunges Mädchen, wie man vielleicht befürchten könnte, sondern eine gestandene Frau mit
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