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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten
Autoren: Gemma O'Connor
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keine Sorgen zu machen, sonst wächst dir das alles noch über den Kopf. Wie jetzt gerade.« Sie hakte sich bei mir unter. »Na komm, ich lade dich auf einen Drink ein, und dann schmieden wir Pläne.«
    Pflichtbewußt, wie ich nun mal war, wollte ich gerade Einspruch erheben, daß ich nicht etwas trinken und mich anschließend ans Steuer setzen könne, aber sie hob die Hand.
    »Du kannst dir ja bestellen, was du willst, Schätzchen, aber mir steht jetzt der Sinn nach einem Guiness.«
    Wir tranken also jeder ein Glas, und ich arbeitete dabei einen Reiseplan für die Städte mit Kathedralen aus, die per Bus vom Flughafen aus zu erreichen waren. Ich erinnere mich, wie entzückt sie von dem Plan war, und an die Begeisterung, mit der sie ihre Reisen begann. Mit Sicherheit besuchte sie jede einzelne Stadt auf der Liste einmal. Von jedem Ausflug kam sie mit einem Führer zurück und verwöhnte uns mit genauen Schilderungen der Cafés, in denen sie eingekehrt war, und der Leute, die sie kennengelernt hatte. Ihre Freude an den großartigen Kirchen konnte einfach nicht vorgetäuscht sein, schließlich hatte sie immer ein Gespür für Schönheit gehabt.
    Wenn ich mir das jetzt so überlege, schlugen diese Ausflüge ein neues Kapitel in ihrem und in meinem Leben auf. Ich fühlte mich nicht mehr verpflichtet, mich um die Gestaltung ihres Urlaubs zu kümmern. Diese kleinen Reisen machten uns beide unabhängiger und brachten uns gleichzeitig einander näher. Bis dahin war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich mir wünschte, daß das Land, in dem ich lebte, ihr gefalle. Daß sie die Schönheit Englands schätzen lerne. Wie jedermann zu jener Zeit waren wir die nicht enden wollenden Spannungen in Nordirland leid. Auch wenn wir versuchten, das Thema zu meiden, es war immer da und bestimmte unser Verhalten. Im Lauf der Jahre war ich in vielen der Städte auf Lilys Liste gewesen. Und jetzt hatten wir zum ersten Mal, seit ich von zu Hause weg war, etwas gemeinsam, etwas Neues, worüber wir miteinander reden konnten.
    »Hör mal, Schätzchen, wenn ich in meinem Alter nicht auf eigene Faust mein Leben genießen könnte, wäre ich ein trauriger Fall. Leb du weiterhin dein Leben und hör auf, dir meinetwegen Sorgen zu machen. Ich komm schon zurecht.« Sie machte mir keine Vorwürfe, daß ich sie als eine lästige Verpflichtung betrachtete, obwohl das durchaus verständlich gewesen wäre. Schließlich stellte sich sogar heraus, ich konnte, da sie sich selber so großartig vergnügte, während ich arbeitete, gelegentlich einen Tag freinehmen, ohne deswegen ein ungutes Gefühl zu haben. Wir wurden beide lockerer, und von da an waren ihre Besuche wirklich das reinste Vergnügen. Für beide von uns.
    So ging es bis zum Ende. Als sie sich durch die Liste hindurchgearbeitet hatte, verkündete sie, es sei unmöglich, bei einem einzigen Besuch alles zu sehen. Na ja, sie hatte wahrscheinlich mit einiger Begeisterung die Bücher über alle diese Kathedralen gelesen, denn sie beschrieb Gloucester, Bath, Wells, Bristol, Oxford, Lincoln, Salisbury und Ely phantasievoll in allen Einzelheiten, aber in Wirklichkeit hatte es sie, wie ich später herausfand, immer wieder nach Oxford gezogen. Sie war eben doch nicht so einfach zu durchschauen gewesen.
    Und auf diese Weise lernte ich meine Mutter endlich kennen, ganz allmählich. Obwohl es mir damals nie in den Sinn gekommen wäre, mich zu fragen, was, um alles in der Welt, sie wirklich machte. Wie sie ihre Zeit verbrachte. Diese scheinbar so harmlosen Ausflüge mit dem Bus. Die Erregung, wenn sie zurückkam. Die lächelnde kleine Frau mit rosigen Wangen: so fröhlich, so begeistert, so ungekünstelt. Und noch etwas: so geheimnistuerisch, das war es. Das läßt sich nicht leugnen: Sie hat mir ganz schön Sand in die Augen gestreut. Ich muß lachen, wenn ich daran denke. Verdammt raffiniert war sie schon.
    Ich wünschte, ich hätte mir damals mehr Gedanken darüber gemacht. Ich wünschte, ich wäre nicht so sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Ich wünschte.
    O herrje. Oh, Lily Gilmore, ich wünschte, ich hätte dich besser gekannt. Doch ich greife voraus …

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    »Vorsicht beim Aussteigen«, leierte der Fahrer seine Litanei herunter, als die Fahrgäste aus dem Bus stiegen. Beim Abzählen verglich er ihre Anzahl mit seinen Quittungen und stellte fest, eine Person fehlte. Langsam schlenderte er durch den Mittelgang nach hinten. Eine in lebhafte Farben gekleidete weißhaarige Frau saß auf dem
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