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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten
Autoren: Gemma O'Connor
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entwickelte eine Schwäche für Flughäfen wie andere Leute für die Flasche.
    »Das ist eine Art Ausbildung, Schätzchen. Man sieht so viele verschiedene Leute.«
    Ich glaube, sie wäre völlig zufrieden gewesen, jedes Jahr eine Woche in Heathrow oder Gatwick zu verbringen, und gelegentlich war es auch fast so. Ich arbeite am Flughafen Heathrow. Nicht im Passagierbereich, sondern hinter der Hauptrollbahn, dort, wo sich die Lagerhäuser für Frachtgüter befinden. Im Herbst 1991 wurde ich die für Großbritannien zuständige Geschäftsführerin einer in deutscher Hand befindlichen internationalen Spedition. Sie gewöhnte sich an, untertags, während ich arbeitete, wie ein Autor auf der Suche nach Charakteren um die Abfertigungsschalter herumzustreifen. Aber sie war keineswegs wählerisch. Auch die Zugverbindungen nach London und Gatwick interessierten sie.
    Normalerweise setzte ich sie auf dem Weg ins Büro bei Terminal eins ab, und schon war sie unterwegs. Ihre Reisen mit dem fliegenden Teppich nannte sie das. Sie genoß die Aufregung und den Betrieb bei den Abfertigungsschaltern und schien in der Lage, flüchtige Bekanntschaften zu schließen, und zwar mit einem Geschick, das, wäre sie später und unter anderen Umständen geboren worden, zu einer steilen Medienkarriere hätte führen können. Das Seltsame daran ist, in Wirklichkeit war sie eine Einzelgängerin; enge Freundinnen hatte sie keine. Schon immer hatte sie sich in Gegenwart Fremder wohl gefühlt. Noch dem auf den ersten Blick langweiligsten Menschen konnte sie eine spannende Lebensgeschichte entlocken, aber ihr größtes Geschick bestand darin, meiner Freundin Maria und mir von ihren Abenteuern zu berichten.
    Alles würde ich dafür geben, könnte ich jene Zeit noch einmal erleben. Ich wünschte, ich hätte ihr gesagt, wie sehr ich ihren Mut, ihre erstaunliche joie de vivre bewunderte. Die gedankenlose, herzlose, beiläufige Grausamkeit, mit der sie überfahren, aus dem Weg geräumt und liegen gelassen worden war, um zu sterben, läßt mich jedes Mal, wenn ich daran denke, vor ohnmächtiger Wut zittern. Sie fehlt mir, manchmal so sehr, daß es schmerzt.
    Wohl um die Zeit, als ich zu Morgen Morgen wechselte, entdeckte Lily das Liniennetz der Zubringerbusse nach Heathrow. Sie nutzte es, um auf Tagesausflügen durch das ganze Land zu reisen. Diese preisgünstige Möglichkeit, die Schönheiten Englands kennenzulernen, begeisterte sie. Allerdings habe ich nach ihrem Tod herausgefunden, daß Ma in dieser Hinsicht ein ganz klein wenig unaufrichtig war. Sie durchreiste nicht das Land, sondern fuhr meistens in ein und dieselbe Stadt.
    Komischer Gedanke, daß ausgerechnet ich ihr dabei half, dieses kleine Täuschungsmanöver auszuhecken. Damals setzte ich alles daran, meine neue Stellung in den Griff zu bekommen, und hatte ein ungutes Gefühl, weil sie den Großteil ihres Urlaubs alleine verbrachte. Eines Tages hatte ich mit ihr vereinbart, sie nachmittags, nach der Arbeit, an einem der Passagierschalter im Flughafen zu treffen. Wir hatten vor, einen Ausflug nach Windsor zu machen, um das Schloß zu besichtigen und dort zu Abend zu essen. Natürlich war ich zu spät dran, und sie wartete nicht am vereinbarten Treffpunkt. Nachdem ich eine halbe Stunde lang hektisch hin- und hergerannt war, fand ich sie schließlich draußen vor Terminal eins, wie sie den steten Strom von Bussen, die von der Busstation gegenüber losfuhren, beobachtete.
    »Die fahren zu allen möglichen Städten im ganzen Land, Schätzchen«, begrüßte sie mich fröhlich. »Ich habe mich erkundigt. Ich kann Tagesausflüge zu allen nur erdenklichen Orten machen.«
    »Mit dem Bus?« Ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen und meinem Ärger Herr zu werden. Am Telefon hatte ich mich eben mit meinem Freund Davis gestritten. Er war immer ein bißchen muffig, wenn Lily hier war. Sie sagte nie, ob sie ihn mochte oder nicht. Das war auch gar nicht nötig. Ich wußte genau, er langweilte sie zu Tode, und das machte mich natürlich unsicher und nervös.
    »Wohin zum Beispiel?« wollte ich wissen.
    Sie zuckte die Schultern. »Oh, überallhin«, meinte sie und streckte mir einen Stapel Fahrpläne hin. »Das wird großartig, Nell. Du könntest mich auf dem Weg ins Büro hier absetzen und dann wieder abholen – wann immer du willst.« Sie grinste auf die ihr eigene Art, mit schief gelegtem Kopf. »Und dann, Schätzchen, kannst du ein bißchen mehr Zeit mit diesem Freund verbringen. Wegen mir brauchst du dir
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