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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten
Autoren: Gemma O'Connor
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Güte zu erröten. »Ich versuche gleich noch einmal, ihn anzurufen, um ihm zu sagen, daß Sie auf dem Weg zu ihm sind, aber schieben Sie nicht mir die Schuld zu, wenn er sie unfreundlich empfängt. Er kann ziemlich garstig sein. Dort oben will er niemanden sehen. Er haßt Besucher«, fügte sie triumphierend hinzu und warf der älteren Frau einen fragenden Blick zu. »Geht es um Familienangelegenheiten?« fragte sie, wie um etwas wiedergutzumachen.
    »So könnte man sagen«, erwiderte Mrs. Gilmore ausweichend und bedankte sich weitschweifig für die Mühe, die die Sekretärin sich gemacht hatte. Leichtfüßig trippelte sie dann aus dem Zimmer und wirkte bemerkenswert zufrieden mit sich.
    Als Miss Spence ein oder zwei Minuten später erneut versuchte, den Nebenanschluß der Bibliothek zu wählen, war die Leitung tot. Fünf qualvolle Minuten dauerte es, bis sie die Ursache der Störung feststellte. Irgendwie war die Schnur seitlich am Telefon aus der Halterung geglitten. Allerdings machte das nichts weiter aus, denn als sie schließlich die Nummer noch einmal wählte, ging niemand an den Apparat. Zu dem Zeitpunkt hatte Mrs. Gilmore bereits beide Höfe überquert und keuchte die lange, steile Treppe zur Buchbinderei hinauf.
    Auf dem obersten Treppenabsatz blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen, dann klopfte sie an die massive Tür. Etliche Male versuchte sie es, immer heftiger, und als nach wie vor keine Reaktion kam, drückte sie leise den Türgriff aus Messing herunter, zog die schwere Eichentür auf und brach sich fast das Nasenbein an einer zweiten, mit grünem Flanell bespannten Tür dahinter. Als sie auch diese aufgedrückt hatte, rückte sie nervös ihren Hut zurecht, schlich sich auf Zehenspitzen hinein, machte leise die Tür hinter sich zu und stand ein paar Augenblicke mit dem Rücken daran gelehnt da, ehe sie ihre Tasche auf eine Bank in der Nähe stellte und eine kleine Leinwandrolle herausnahm. Dann tat sie etwas Seltsames: sie schlüpfte aus den Schuhen und stellte sie ordentlich neben die Tasche.
    Sie sah sich um. Der Raum war ungeheuer lang und schmal – wohl zwölf mal viereinhalb Meter –, so daß er auf den ersten Blick eher wie ein Korridor als wie eine große Galerie wirkte. Vereinzelte Lichtflecken fielen durch die Fenster aus Buntglas auf den gewellten Eichenboden. An der hölzernen Decke des Tonnengewölbes hoch über ihr, die einst wahrscheinlich reich verziert gewesen war, konnte sie noch vereinzelte Überbleibsel goldener, blauer und roter Farbe erkennen. Drei hohe Buchpressen aus Holz standen an den weiß verputzten Wänden; zwischen die riesigen Platten waren dicke ledergebundene Bücher geklemmt. Abgesehen von einer Reihe in leuchtenden Farben kolorierter Landkarten waren die Wände kahl. Der Geruch nach Leder erfüllte den ganzen Raum. Bei dieser nahezu vergessenen Erinnerung schnupperte sie anerkennend.
    In der Mitte des Raums, vor dem größten Fenster, bildeten drei Refektoriumstische, auf denen sich Bücher stapelten, einen U-förmigen Arbeitsbereich. Am mittleren Tisch war ein hagerer weißhaariger Mann in seine Arbeit vertieft. In der linken Hand hielt er eine Punze; offenbar reparierte er den Einband eines großen Buches, das auf einer dicken Unterlage unter dem einfallenden Licht lag. Er blickte nicht auf, als sie sich leise näherte, schien nicht einmal ihre Anwesenheit zu bemerken. Sie fragte sich, ob er wohl taub war, bis sie die Kopfhörer bemerkte; jetzt war ihr klar, warum er weder sie gehört hatte noch ans Telefon ging, als dieses jetzt zu schrillen begann. Sie blieb in einiger Entfernung von der Werkbank stehen, außerhalb seines Blickfeldes, und sah ihm zu, wie er mit ruhigen, gemessenen Bewegungen arbeitete, wobei seine Hand sich mühelos bewegte. Ein zischendes Ausatmen, ein Seufzer. Verträumt glitt sie in eine Zeit zurück, die längst vergangen war, in der sie einst fast die gleiche Szene beobachtet hatte. Wenn auch nicht in einem so großartigen Rahmen.
    Er arbeitete langsam, ruhig. Links von ihm lag ein längliches Polster aus Wildleder mit in winzige Quadrate zerschnittenem Blattgold. Ein wenig zu seiner Rechten wurden ordentlich nebeneinander aufgereihte Messingwerkzeuge mit Holzgriffen auf einer kleinen elektrischen Platte erhitzt, die er eines nach dem anderen zur Hand nahm. Die Wärme des Werkzeugs schien das Blattgold anzuziehen, das er dann geschickt an den Stellen auf den Einband auftrug, wo das Muster beschädigt oder ganz verschwunden
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