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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten
Autoren: Gemma O'Connor
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war.
    Wohl ein dutzendmal oder noch öfter führte er diese Bewegung aus, ehe er das Messingwerkzeug hinlegte, die Heizplatte abschaltete und sich mit der Hand erschöpft über die Augen strich. Er nahm die Kopfhörer ab, schob den Schemel zurück, an den er sich gelehnt hatte, richtete sich auf, streckte die Arme aus und stützte die Hände auf die Werkbank. Ohne sich zu bewegen, blieb er einen Augenblick lang so stehen, dann beugte er sich etliche Male nach vorne und hinten, um seinen steifen Rücken zu entspannen. Noch immer schien er nicht bemerkt zu haben, daß sie schweigend dastand und ihn beobachtete. Als er sich halb zum Fenster wandte, fiel das Sonnenlicht direkt auf ihn. Und jetzt endlich konnte sie zum ersten Mal sein Gesicht richtig sehen.
    Ihr Herz machte einen Satz wie ein Lamm im Frühling. Er hatte sich fast gar nicht verändert. Das gleiche sanfte Gesicht. Nach all den Jahren waren die wunderschönen Gesichtszüge weder durch Alter noch durch Fett verschwommen geworden. Sein dichtes, einst dunkles Haar war jetzt genauso weiß und üppig wie ihres, und sie stellte erfreut fest, auch er war eitel, was seine Haarpracht betraf, die sorgfältig gestutzt war. Ein gut aussehender Mann.
    Sie glaubte, er hätte sie nicht bemerkt, bis er sich langsam umdrehte und auf seine typische Weise leise glucksend lachte. Sie war erstaunt, an was alles sie sich bei ihm erinnerte. Doch noch erstaunter war sie, als sie feststellen mußte, er hatte, während sie ihn beobachtete, die ganze Zeit gewußt, daß sie da war.
    »Habe ich die Prüfung bestanden?« fragte er leise. »Niemand konnte je so lange ruhig dastehen wie du. Hast du dir alles genau angesehen?« Zu ihrer Überraschung lachte er erneut. Sie antwortete nicht. Statt dessen trat sie einen Schritt vor, rollte die Werkzeugtasche auf, die sie mitgebracht hatte, und legte sie auf die Werkbank vor ihn. Er starrte auf seinen alten Werkzeugsatz hinunter, auf die Beschneidmesser und vergilbten Falzbeine, die Messingstifte, die leicht angerostete Schere.
    »Die hast du die ganze Zeit über aufgehoben?« Er streckte die Arme aus. »Ach, Lily Sweetman.« Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Du bist ein Trost für wehe Augen. Wie, um alles in der Welt, hast du mich gefunden?«

31. Mai 1941

3
    Drohend knurrte Buller Reynolds Hund vor der Tür; aus schierer Wut und Angst begann das Kind zu schreien.
    »Pst, Jimmy, pst. Oh, um Himmels willen, nicht schreien, nicht jetzt. Bitte, bitte, Kleiner, nicht schreien.«
    Das kleine Mädchen wiegte sanft das pfeifend atmende Kind in den Armen, schmiegte die tränenüberströmten Wangen an sein schrumpliges Gesichtchen. Als erneut durchdringendes Geheul aus ihm hervorbrach, preßte sie die Hand auf seinen Mund.
    »Bitte, kleiner Bruder, bitte, sei still. Bitte, Jimmy«, wisperte sie verzweifelt.
    Leise schluchzend, bettete sie das Baby auf die fleckige Matratze, die fast die Hälfte der trostlosen Abstellkammer einnahm, die ansonsten, bis auf einen Küchenstuhl ohne Lehne, unmöbliert war. Sie kauerte sich neben ihn, zog eine, alte graue Armeedecke über sie beide und drückte das schniefende Kind an sich. Im angrenzenden Zimmer setzte erneut das Gepolter ein, und irgend etwas krachte an die Trennwand hinter ihrem Kopf. Das Knurren des Hundes wurde immer bösartiger; wütend kratzte er unten an der Tür. Das Kind kreischte vor Entsetzen und versuchte, sich aus der Wärme der Decke und der Umklammerung seiner Schwester zu befreien. Immer erregter wimmerte es.
    »Oh, Kleiner, Kleiner, pst. Bitte, bitte. O bitte. Hilf mir. Sschhhh, bitte, bitte.«
    In dem einen Arm wiegte sie ihn, während sie ihm den gekrümmten Knöchel des kleines Fingers der anderen Hand in den Mund steckte. Augenblicklich beruhigte er sich und nuckelte mit aller Kraft. Sie hielt den Atem an und verharrte in dieser unbequemen Stellung, bis er ein paar Minuten später einschlief. Dann zog sie ihren Arm, der ganz steif geworden war, unter ihm hervor und lag neben ihm – beobachtete ihn und wunderte sich, welch Frieden das unschuldige kleine Gesicht mit einem Mal ausstrahlte.
    Fast sofort nach der schwierigen Geburt des Jungen hatte seine Mutter sich von ihm abgewandt; so war die Sorge für ihn auf sie abgewälzt worden, und jetzt beschützte sie ihn ingrimmig. Sie mochte sein kleines liebes Lächeln. Und haßte es, wenn die Nachbarn ihn als blöde bezeichneten und meinten, er gehöre in ein Heim. Der kleine Jimmy tat niemandem etwas zuleide.
    Sie lag in der
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