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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten
Autoren: Gemma O'Connor
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Fahrweise einigermaßen beängstigend. Eigentlich benutzte sie den Wagen nur in unserer Gegend und auf dem Land. Der Verkehr in der Stadt jagte ihr eine Heidenangst ein, obwohl diese wahrscheinlich kaum der Wut gleichkam, in die sie andere Autofahrer versetzte. Denn sie fuhr unweigerlich immer in der Straßenmitte. Gott sei Dank kann man in Irland die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos benutzen, sobald man fünfundsechzig ist, daher kam sie mit DART ziemlich weit herum und fuhr ansonsten mit dem Rad.
    Komisch, wie man seine eigene Mutter kaum wahrnimmt. Ich hatte geglaubt, die Fixpunkte, um die ihr Leben sich drehte, zu kennen. Mein Vater war bei ihrer Heirat ein Witwer mit zwei erwachsenen Söhnen gewesen. Meine beiden Halbbrüder waren nach Australien ausgewandert, ehe ich auf die Welt kam, und so war ich im Grunde genommen ein Einzelkind. Die Jungs legten keine besondere Begabung dafür an den Tag, die Verbindung aufrechtzuerhalten, aber schließlich und endlich war auch mein Vater nicht gerade erpicht auf Gespräche. Ein Abend in der Kneipe, zusammen mit seinen Kumpeln, das behagte ihm. Er trank nicht viel, meistens nur ein paar Gläser, aber ich schätze, ihm lag vor allem an der Gesellschaft von Generationsgenossen des gleichen Geschlechts.
    Da mein Vater immer, soweit ich mich zurückerinnere, im Ruhestand gelebt hatte, sorgte meine Mutter für den Lebensunterhalt der Familie. Er war Tischler gewesen, ein Beruf, in dem man ohnehin nicht gerade ein Vermögen verdient. Mittlerweile weiß ich, daß sie immer mehr verdient hatte als er. In Geldsachen war er überaus empfindlich, deshalb hatte sie vermutlich das Gefühl gehabt, kein Aufhebens davon machen zu dürfen. Ohne sie hätte ich nie aufs College gehen können. Obwohl ich ein Teilstipendium bekam und zu Hause wohnte, mußte sie den lieben langen Tag lang schuften, um uns durchzubringen.
    Im Rückblick kann ich kaum glauben, wie viel ich einfach als selbstverständlich hinnahm. Während meiner Zeit auf dem College nahm ihr Schneidern einen neuen Aufschwung. Sie begnügte sich jetzt nicht mehr mit billigen Ausbesserungsarbeiten, sondern begann, herrliche Ballroben und Cocktailkleider zu nähen. Sie möbelte ihre Preise auf. Und sich selber. Ich fand die leuchtenden Grundfarben immer ein bißchen aufdringlich, aber eigentlich sah sie gut darin aus. Lebensfroh. Böse Zungen könnten behaupten: auffällig.
    Zwar war ich ein Einzelkind, aber sie hat sich nie an mich geklammert. Vor allem diese Eigenschaft weiß ich jetzt zu schätzen, aber als sie noch lebte, bemerkte ich sie kaum. Sie war stolz, als ich in der Schule gut abschnitt, und noch stolzer, als ich verkündete, ich wolle studieren.
    »Das kriegen wir schon hin«, war ihr ganzer Kommentar dazu. Jetzt frage ich mich, wie sie das geschafft hat. Wir lebten bescheiden in einer kleinen Doppelhaushälfte in Dun Laoghaire, einem Seehafen in der Bucht von Dublin, nur sechs Meilen von der Stadt entfernt. Auf liebenswerte Weise war sie immer sehr stolz auf das Haus und hatte ihre Freude daran. Es gehörte, so sagte sie, ihr, und das bedeutete mehr, als sie ausdrücken konnte. Jetzt weiß ich auch, warum.
    Endlich dämmert mir, wie tüchtig sie war. Mein Vater starb in dem Jahr, als ich das College abschloß. Seinen ersten Schlaganfall, nicht sonderlich schlimm, hatte er gehabt, als ich sechzehn gewesen war, und dann einen weit schlimmeren drei Jahre später; dabei hatte er sein Sprachvermögen weitgehend eingebüßt und war seitdem linksseitig gelähmt gewesen. Ohne großes Aufhebens davon zu machen und ohne sich je zu beklagen, hatte sie sich um ihn gekümmert und es gleichzeitig geschafft, noch mehr zu verdienen. Es muß ziemlich hart für sie gewesen sein, aber irgendwie nahm ich das gar nicht wahr. Heute kann ich gar nicht glauben, wie wenig ich damals davon mitbekam.
    Nach dem Universitätsabschluß beschloß ich, nach London zu gehen, um mir dort eine Stelle zu suchen. Auch damit fand sie sich ab, obwohl es kurz nach dem Tod meines Vaters war. Sie übte keinerlei Druck in der Art »Du bist doch alles, was ich noch habe« aus. Statt dessen zog sie es vor, dies als Gelegenheit zu betrachten, ihren eigenen Horizont zu erweitern.
    »Schon immer wollte ich reisen, Schätzchen, und jetzt kann ich das machen«, erklärte sie. Und sie hielt Wort. Ich glaube, damals lernte ich sie allmählich als eigenständige Persönlichkeit kennen. Ihre Freude an ihren zwei Besuchen pro Jahr bei mir war ansteckend. Sie
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