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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten
Autoren: Gemma O'Connor
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    Meine Mutter wurde am 28. Juni getötet; ich machte gerade Urlaub auf Mallorca. Herrlich heiß und sonnig war es an jenem Tag. Ich war soeben vom Strand zurückgekommen und rannte mit meinem Freund um die Wette zur Dusche, als das Telefon läutete. Seitdem habe ich oft versucht, mich an diesen Augenblick zu erinnern. Ich sehe, wie ich den Kopf wende, wie Davis mit einem triumphierenden Lachen an mir vorbeistürmt, wie ich die Hand ausstrecke. Ich höre keine Worte, die Nachricht bohrt sich in mein Gehirn, und ich kreisle in ein tiefes, schwarzes Schweigen hinunter. An die lange Fahrt von Polença zum Flughafen erinnere ich mich nicht, auch nicht an den Flug nach Dublin. Das einzige, was ich sehe, ist der Polizist, der mich an der Hand nimmt. Kein Laut drang in meine Verzweiflung. Ich konnte ihr Gesicht nicht heraufbeschwören. Aber die ganze Zeit dachte ich an sie.
    Sogar als Kind schon war mir klar gewesen, meine Mutter war etwas ganz Eigenes. Doch erst als ich älter wurde, lernte ich allmählich ihre ruhige Selbstbeherrschung schätzen. Eines bezweifelte ich nie: daß ihr ungeheuer viel an mir lag. Ihre Gefühle meinem Dad gegenüber kann ich nur erraten. Ich glaube nicht, daß er sie je als die starke Persönlichkeit sah, die sie war, eben weil er um so vieles älter war. Er neigte dazu, sie herumzukommandieren, vermutlich vor allem deswegen, weil sie so klein war. Gelegentlich hatte ich das Gefühl, er behandle sie wie ein Kind. Doch selbst wenn ihr das etwas ausgemacht haben sollte, so hat sie doch nie ein Wort darüber verloren.
    Obwohl sie viel redete, war sie nicht sonderlich mitteilsam; ihre Gedanken behielt sie für sich. Als ich noch klein war, dachte ich überheblich, der Grund dafür sei, weil sie eben nichts im Kopf habe. Mit der Zeit wurde mir jedoch klar, das war durchaus nicht der Fall. Ihre Stärke war es, daß sie für mich da war. Verläßlich, findig und, wenn ihr danach zumute war, heiter und ausgelassen.
    Um die Sechzig herum nahm sie allmählich zu, nicht allzu sehr, aber bei ihrer kleinen Gestalt machte das bißchen sich schon bemerkbar. Zugegeben hat sie das allerdings erst in den letzten paar Jahren ihres Lebens. Einmal erklärte sie mir, es sei eine regelrechte Offenbarung für sie gewesen, denn als die Haut sich über die weichen Rundungen ihres Gesichts gespannt habe, seien die Falten verschwunden, und sie hätte jetzt viel, viel jünger gewirkt. Und das stimmte. Dieses Bild von ihr sehe ich jetzt vor mir: klein und stämmig und unerschrocken. Und so will ich sie in Erinnerung behalten, denn mit zunehmendem Alter wurde sie gelassener und ausgeglichener. Allerdings würde sie es mir kaum danken, wenn ich sie als pummelig beschriebe, das können Sie mir glauben. Ihr Leben lang war sie eitel gewesen und hatte immer großen Wert auf ihre äußere Erscheinung gelegt. Sie war immer klein und zierlich gewesen und hatte sich auch nie anders empfunden.
    Eigentlich wußte ich kaum etwas über sie. Oder, genauer gesagt, seit ihrem Tod habe ich mehr über sie erfahren, als ich zu ihren Lebzeiten je vermutet hätte, und das hat in mir ein Gefühl verpaßter Gelegenheiten hinterlassen, das Gefühl, bei alldem die Verliererin zu sein. Sie war verdammt interessanter gewesen, als ich je geahnt hatte. Am meisten und schmerzlichsten bedaure ich, daß es mir zu ihren Lebzeiten nie in den Sinn gekommen war, Freundschaft mit ihr zu schließen. Ihre Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft waren in dem einen Wort inbegriffen gewesen, das ihr Leben geprägt hatte: Mutter. Sie war ein wenig älter gewesen als die Mütter meiner Freundinnen; ein wenig lauter, ein wenig gewöhnlicher. Der Sprechunterricht hatte nie wirklich etwas gebracht; ihr breiter Dubliner Akzent, der ihre Herkunft verriet, hatte sich nie ganz gegeben.
    Als ich auf die Welt kam, war sie fast siebenunddreißig, und als ich mich an der Universität einschrieb, arbeitete sie, wie sie es nannte, auf ihren Ruhestand hin. Damals begann sie, sich fein zu machen und ihr wunderschönes Haar richtig schneiden zu lassen. Sie wurde regelrecht unternehmungslustig, und ich war, mit dem typischen Hochmut der Jugend, völlig verwirrt über diese Verwandlung. Ungefähr zur gleichen Zeit – es war das Jahr, bevor mein Vater starb – kauften wir uns das erste Auto. Sie und ich machten zur gleichen Zeit den Führerschein, so daß wir Dad abwechselnd herumkutschieren konnten.
    Hinter dem Steuer fühlte Lily sich nie richtig wohl, und dementsprechend war ihre
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