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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten
Autoren: Gemma O'Connor
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Düsterkeit und beobachtete ihn, streichelte sanft seine Schläfen, voller Angst, er würde erneut zu schreien anfangen. Selbst im Schlaf hielt er nie still; der kleine, verunstaltete Körper rang um jeden Atemzug; er fuchtelte wie wild mit den Händen und zuckte unkontrolliert mit den Beinen. Hin und wieder durchlief ihn ein leichtes Zittern, und als sie ihre Hand wegnahm, schlängelte er sich zu ihr, als fühle er sich nur in ihrer Nähe sicher.
    Sie zwang sich, sich an die Worte von Liedern zu erinnern, an die Einmaleins-Tabellen für neun, an halb vergessene Gebete, an die Einmaleins-Tabellen für fünf, an alles, alles, um nur nicht das grauenhafte pochende Geräusch im angrenzenden Zimmer, das Stöhnen ihrer Mutter, das ’Knurren des Hundes zu hören.
    Mit einbrechender Dämmerung wurde es in der Kammer allmählich dunkler. Das Baby rollte sich von ihr weg, stieß einen leisen, spitzen Schrei aus und lag dann ruhig da. Sie wußte, es war bestimmt schon nach zehn, aber sie hatten Ende Mai, und der Himmel war noch nicht ganz dunkel. Und sie wußte, wie es jetzt weitergehen würde: eine Zeit lang wären sie ruhig, dann würde er aufstehen und brüllen und ihre Ma wieder schlagen. Und dann würde er verschwinden, zusammen mit seinem grauenhaften Bluthund. Um jemand anderen zu quälen. Sechs mal sechs ist sechsunddreißig. Vier mal fünf zwanzig. Sie mußte ganz leise sein, unbedingt, denn wenn sie etwas sagte oder Jimmy zu schreien anfing, würde ihre Ma durchdrehen.
    Und das heute Abend. O Gott, heute Abend war es am schlimmsten. Sie durfte nicht daran denken. Schlimme Gedanken waren eine Sünde. Sechs mal sieben ist, sechs mal sieben ist, sechs mal sieben ist … Sie krümmte sich vor Angst.
    Irgend etwas wurde über den Fußboden gezerrt. Dann schwerfällige Schritte. Er kam auf die Tür zu. O mein Gott. Sie stopfte sich die Finger in die Ohren und lag stocksteif da; ihr Herz klopfte, daß es schmerzte. Laßt ihn nicht rein, laßt ihn nicht rein. Bitte, irgendjemand soll machen, daß er nicht reinkommt. Er rüttelte an der Tür, trat dann mit dem Fuß dagegen und brüllte ihrer Mutter etwas zu. Das Schloß hielt stand. Milos Schloß hält, dachte sie triumphierend und seufzte ein stummes Dankgebet. Jimmy kicherte im Schlaf und rollte sich auf die Seite. Sie vergrub ihren Kopf in der Decke und wartete auf die Schritte des Vermieters, wenn er die Treppe hinunterging. Wartete auf das Herumschlurfen ihrer Mutter.
    Sie war wohl eingedöst, denn sie hörte keinen von beiden. Als sie die Finger wieder aus den Ohren zog, war es im Haus still; nur das übliche Rascheln und Krabbeln hinter der Wand war zu hören. Sie würde nicht zu dem klaffenden Loch hinschauen, wo die Fußleiste weggebrochen war. Was die anderen sagten, war ihr egal; es waren keine Ratten. Nein. Keine Ratten. Sie stemmte sich von der Matratze hoch. Mäuse, Mäuse, Mäuse, Mäuse, Mäuse, sang sie leise, eintönig vor sich hin, als sie auf die Tür zu schlich. Sie preßte das Ohr an die abblätternde Farbe und horchte. Es waren nur Mäuse. Sie würde nicht an die Ratte denken, die sich von dem leer stehenden Haus nebenan stetig einen Tunnel grub. Oder daran, daß es möglicherweise mehr von der Sorte gab. Die Ratte war tot, tot, tot. Martin hatte sie mit einer Schaufel erschlagen.
    Mäuse taten einem nichts, dazu waren sie zu klein. Rosie, die zwei Stockwerke tiefer wohnte, hatte gesagt, sie sollten sich eine Katze anschaffen. Um die Babys zu schützen, hatte sie gesagt. Aber das Kätzchen, das Martin mit nach Hause gebracht hatte, war zu scheu und viel zu klein gewesen. Als es im Treppenhaus die roten Augen gesehen hatte, war es aus dem Haus geflitzt, als hätte jemand es mit kochendem Wasser Übergossen, und war nicht mehr zurückgekommen. Jetzt war auch Rosie weg. Das war eben so mit den Leuten in diesem schrecklichen Haus. Sie verschwanden so schnell wie möglich von hier.
    In dem Kämmerchen war es jetzt fast ganz dunkel. Sie drehte den Schlüssel im Schloß herum, steckte ihn in die Tasche und schlich auf den Treppenabsatz hinaus, der gleichzeitig als behelfsmäßige Küche diente. Sofort hörte sie zu ihren Füßen auf dem ramponierten Linoleum ein unheimliches Gewurle. Sie kniff die Augen zu und zählte langsam bis zehn, ehe sie sie wieder aufmachte. Der Wecker auf dem Bord zeigte fünfundzwanzig nach zwölf. Sie mußte an die zwei Stunden geschlafen haben.
    Vorsichtig spähte sie um die offenstehende Tür in das andere Zimmer, aber es war
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