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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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    Kapitel 1
    Der Schwarzmarktkönig
     
     
     
    Nachdem die Sowjetsoldaten die Pferde
getränkt hatten und weitergezogen waren, rann nur noch ein dünner Strahl aus
der Wasserpumpe. Unterdessen war die Menschenkette in der Pankower Florastraße
länger und länger geworden. Sie wand sich von der Pumpe an den ausgebrannten
und wie von Gigantenfaust zerdrückten Wehrmachts-Lkws vorbei, machte einen
Bogen um drei Grabhügel mit flüchtig zusammengezimmerten Holzkreuzen und
überquerte einen notdürftig zugeschütteten Bombentrichter vor der Hausruine auf
der anderen Straßenseite.
    Karl Meunier stellte
sich mit seinem Blecheimer ans Ende der Warteschlange. Zwei Frauen vor ihm
unterhielten sich leise miteinander. Er kannte sie nur flüchtig vom Sehen,
wusste aber von Vera, dass sie bei Fliegeralarm im Gesundbrunnen-Bunker immer
gebetet hatten. Die Gebete waren erhört worden, zumindest was den Bombentod
betraf. Nur was unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee mit ihnen und
wohl den meisten Frauen in der Straße geschehen war, hatte der Herr im Himmel
nicht abwenden können. Falls Vera noch lebte, war ihr zumindest das
entwürdigende Schicksal einer Vergewaltigung erspart geblieben.
Dienstverpflichtet als Hilfskrankenschwester, hatte sie zwar mit einem der
letzten Lazarettflüge Berlin in Richtung Westen verlassen können, aber die
Sorge, ob der Verwundetentransport jemals Schleswig erreicht hatte, war ein
endloser Albtraum, der Karl auch über die schlaflose Nacht hinaus in den Tag hinein
verfolgte. Er konnte nur inständig hoffen, dass es ihr gelungen war, unversehrt
der Feuerwalze zu entkommen, die die Hauptstadt des »Tausendjährigen Reichs« in
eine Steinwüste verwandelt hatte, denn beten wie die beiden Frauen konnte Karl
schon lange nicht mehr.
    Der Glaube an einen gütigen Gott, der es
mit seiner Schöpfung wohlmeinte, war in ihm gestorben, und dazu hatte es nicht
erst einer marodierenden russischen Soldateska bedurft. Zwölf Terrorjahre unter
dem größenwahnsinnigen Vegetarier und seiner braunen Gefolgschaft waren
ausreichend gewesen, um jeglichen Glauben auf ewig zu verlieren, nicht nur an
den Allmächtigen, sondern auch an seine Mitmenschen als denkende Wesen.
    »Ja, ja, ja!«, hatten die Massen im
Sportpalast sich heiser gebrüllt, als der Hinkefuß sie gefragt hatte, ob sie
den totalen Krieg wollten, als Berlin bereits zusehends in Schutt und Asche
versunken war und Reichsluftmarschall Göring schon längst »Meier« hieß.
    »Führer, befiehl! Wir folgen dir!« Und
blind gefolgt waren sie alle ihrem Führer sogar noch auf dem Weg in den
Abgrund, kritiklos und schicksalsergeben wie Lemminge. Fast alle jedenfalls.
    An der Balkonbrüstung eines weitgehend
unzerstörten Hauses befestigte eine Frau unter dem überlebensgroßen Porträt
Stalins eine breite rote Stoffbahn. Dort auf dem Balkon von Familie Schultheiß
hatte immer die größte Hakenkreuzfahne geweht, aber nach dem Sieg der
slawischen »Untermenschen« war plötzlich quasi jeder zu einem
Widerstandskämpfer mutiert oder hatte seine jüdischen Nachbarn vor den
Gestapo-Häschern versteckt. Karl spuckte angewidert aus, denn Frau Schultheiß –
Mutterkreuz, Goldenes Parteiabzeichen – war natürlich, vermutlich zumindest,
auch insgeheim die Leiterin einer kommunistischen Untergrundzelle gewesen.
    Eine Hand legte sich von hinten auf Karl Meuniers Schulter.
Sie gehörte dem pensionierten Volksschullehrer aus dem zerbombten Haus neben
dem der Familie Schultheiß. Der alte Mann stellte seinen Wassereimer neben
Karls. »Beim Kaufmann in der Steegerstraße soll es wieder Margarine geben.«
    »Tatsächlich? Als ich vorhin welche holen
wollte, war keine mehr da. Brot beim Bäcker nebenan übrigens auch nicht.
Immerhin konnte ich meinen Ersatzkaffee-Abschnitt einlösen.«
    »Berlin lebt auf«, hatte die erste Nummer
der Berliner Zeitung euphorisch verkündet, dabei war es sogar eine Art
von Lotteriespiel, ob man die spärlich bemessenen Nahrungsmittel erhielt, die
einem laut Bezugskarte zustanden.
    Karl schlug sich mit der flachen Hand auf
die Stirn. ›Die einzigen Kreaturen, die derzeit aufleben‹, dachte er bitter, ›sind
die Mücken.‹ Nie hatte Berlin so früh im Jahr eine derartige Plage erlebt. Sein
Blick glitt über die zu einer Geröllhalde reduzierte Häuserzeile neben der
Wasserpumpe: Noch auf Wochen würden die Schwärme der Blutsauger dort reichlich
Nahrung finden.
    »Auf dem Potsdamer Platz hat mein Neffe
gestern von einem Russen ein
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