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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33
Autoren: Martin Clauß
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die Blicke der Menschen sich auf einen Punkt richteten, der irgendwo hinter ihr am Himmel lag. Ein fernes Tosen drang an ihre Ohren, ein Windgeräusch. Es kam näher.
    Zunächst dachte sie sich nicht viel dabei. Also hat diese Welt auch ein Wetter. Mehr war es nicht, was ihr dazu einfiel. Doch am Himmel braute sich etwas Dunkles zusammen, eine Art Windhose wie aus schwarzem Rauch. Etwas Zorniges haftete dem Phänomen an.
    Und der Tornado kam direkt auf sie zu, ein zuckender Finger, der nervös auf den Boden tippte. Sie erwartete, dass man in der Entfernung Zeichen der Zerstörung sehen würde, umherfliegende Dachziegel vielleicht, doch davon gab es keine Spur. Dennoch reagierten die Menschen mit Panik. Die wenigen, die sich im Freien aufhielten, ergriffen die Flucht, liefen in unterschiedliche Richtungen davon. Der Strom von Flüchtigen aus dem Scriptorium blieb noch aus – offenbar hatten die Menschen im Inneren noch nichts von dem Sturm mitbekommen.
    Er ist nicht gefährlich, dachte Sanjay. Bestimmt nicht. Sie war an einem fliegenden A hängend über die Stadt geflogen und von schwarzen Giftschlangen gestochen worden, und sie hatte es überstanden. Sie würde auch diesen Wirbelsturm überstehen. Zwar pfiff und heulte er, doch er richtete keinen Schaden an. Er war eine Illusion, eine Fata Morgana. Sanjay würde einfach stehenbleiben, und falls er weiter die Richtung hielt, würde er durch sie hindurchgehen, und sie würde sich danach fühlen wie eine Heldin.
    In die Windgeräusche mischte sich eine andere Art von Lärm. Sie glaubte aus dem schnellen Flappen das Kreisen von Helikopter-Rotoren herauszuhören. Aber ein Hubschrauber passte nicht in diese Welt. Sonst hätte es auch Autos gegeben, Züge und U-Bahnen.
    Hundert Meter vor ihr hatte ebenfalls jemand darauf verzichtet, sein Heil in der Flucht zu suchen. Eine Gestalt mit Mantel stellte sich dem Tornado trotzig entgegen.
    Das Scriptorium befand sich links von ihr, ein gewaltiges, acht- oder zehnstöckiges Gebäude mit Steinsäulen davor, die groß genug waren, um von der Akropolis zu stammen. Hinter dem Dach dieses Bauwerks tauchte nun etwas auf, ein Fluggerät, und tatsächlich: Es war der Verursacher des Lärms, und es erinnerte entfernt an einen Helikopter. Ein metallischer, roh zusammengeschraubter Kasten mit winzigen Fenstern darin hing an einem riesigen X wie eine Hubschrauberkabine an den Rotoren. Doch das X war um ein Vielfaches größer als jeder Rotor, die sie je gesehen hatte, und außerdem drehte er sich viel langsamer. Es hielt die Konstruktion in der Luft, ohne dass es physikalisch einen Sinn machte.
    Der Helikopter hielt – wie auch der Wirbelsturm – auf sie zu. Es sah beinahe aus, als komme er, um sie zu retten …
    Sanjay begann zu rennen, auf den Tornado zu. Sie wollte nicht gerettet werden, nicht schon wieder. Sie wollte den Wirbelsturm bezwingen.
    Sie war eben erst losgeprescht, da musste sie mitansehen, wie die Gestalt vor ihr von dem wütenden schwarzen Sog erfasst wurde. Der Unglückliche verlor den Boden unter den Füßen, ruderte mit den Armen, wurde seitlich in den Sturm hineingezogen, verschwand im Inneren. Seine Schreie verschwanden mit ihm. Der Sturm verschluckte keine Dinge, aber er fraß Menschen. Seelen. Sanjay änderte ihre Laufrichtung, ohne langsamer zu werden.
    Neben ihr erscholl ein ohrenbetäubendes Krachen. Funken flogen auf sie zu.
    Der Helikopter hatte sich herabgesenkt und war fünf, sechs Meter neben ihr mit dem Asphalt kollidiert. Die Tür der klobigen Kabine stand offen, und eine Hand schien sie hineinzuwinken, doch der Augenblick war viel zu kurz, um zu reagieren. Das Fluggerät war nicht zum Stehen gekommen, hatte nur kurz Bodenkontakt gehabt und war dann wieder durchgestartet. Es flog eine enge Schleife, nahe an der Windhose vorbei und näherte sich Sanjay ein weiteres Mal.
    Diesmal zögerte sie nicht. Sie hob die Hand, um dem Piloten zu zeigen, dass sie bereit war. Der Tornado hatte sie beinahe erreicht, und sie spürte einen seltsamen, nicht körperlichen Sog. Eigentlich gar kein schlechtes Gefühl. Sich diesem Sog hinzugeben, würde bestimmt angenehm sein. Es versprach die Flucht aus dieser verrückten Welt, vielleicht sogar die Befreiung von allem.
    Den Tod, so wie er sein musste. Den endgültigen Tod.
    Der Helikopter kam, streifte wieder in einer weißen Funkenkaskade den Boden. Diesmal war er ihr ganz nahe, nur wenig näher als der Wirbelsturm. Einen dritten Versuch würde es nicht geben.
    Sanjay
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