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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33
Autoren: Martin Clauß
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sprang.
    Beinahe hätte sie den Eingang verfehlt. Mit der Schulter schrammte sie schmerzhaft gegen das Metall, und hätte aus dem halbdunklen Innenraum nicht eine Hand nach ihrem Kleid gegriffen und daran gezogen, sie hätte es wohl nicht geschafft. Ihr Schwung und das brutale Zerren der Hand warf sie auf den harten Stahlboden. Da die Hand zu spät losließ, zerriss ihr Kleid.
    Ihr Oberkörper wurde entblößt, und sie versuchte ihre Haut zu bedecken, doch das Fluggerät gewann mit ruckartigen Bewegungen an Höhe, während es in aberwitzigen Manövern dem Wirbelsturm auswich. Sie rutschte hilflos über den glatten Boden, schrammte sich die Knie auf und wurde gegen die hintere Wand geschleudert, als der Helikopter mit der Nase hochging. Voll von echten, lebendigen Schmerzen kauerte sie in der Ecke des Raumes. Sie hatte ein Rohr gefunden, das wie ein Haltegriff hervorragte, und umklammerte es mit beiden Händen.
    Der Mann, der das Fluggerät steuerte, stand auf der anderen Seite des Metallkastens und starrte durch eines der Fenster hinaus, die kaum größer waren als eine geöffnete Hand. Ab und zu warf er einen Blick in ihre Richtung. Er war hager und trug einen Anzug, wie man ihn im 19. Jahrhundert getragen haben mochte. Sein Gesicht lag im Schatten und wurde zur Hälfte von einer Schutzbrille verdeckt.
    „Keine Sorge“, rief er durch das Dröhnen. „Ich lasse dich nicht hinausfallen, jetzt, wo ich dich einmal habe. Sieh nach oben.“
    Sie gehorchte. Unter der Decke der klotzigen Kabine hingen mehrere metallische Objekte, Werkzeuge vielleicht. Beim genauen Hinsehen erkannte sie, dass sie durchweg die Form von Großbuchstaben aufwiesen. Grobe, massige Lettern waren es, schmucklos und abstoßend, das halbe Alphabet vielleicht, und jeder der Buchstaben schien zu einem bestimmten Zweck geformt worden zu sein. Das L war ein Hammer, das P erinnerte an eine Axt, das S war eine gefährlich anmutende Sichel mit doppeltem Schneideblatt. Während sie nach oben sah, löste sich eines der Objekte von der Halterung und flog auf sie zu. Es war ein B.
    Sanjay drehte sich weg, um sich zu schützen, doch das war offenbar genau die Reaktion, auf die der Buchstabe oder der Mann, der ihn steuerte, gehofft hatte. Das B öffnete sich und legte eine seiner Schlingen um ihr linkes Handgelenk, die andere um das rechte. Ihre Hände wurden auf den Rücken gezerrt und dort fixiert wie mit Handfesseln.
    „Was soll das?“, schrie sie. Sie versuchte sich aufzurichten, doch sofort flog ein weiteres Instrument heran, diesmal ein M. Es nagelte ihren Hals an die Wand, blieb dort unverrückbar wie ein starker Magnet. Gleichzeitig drückte sich die mittlere Spitze des Zeichens unter ihr Kinn, nur knapp oberhalb ihres Kehlkopfs, sodass sie gerade noch atmen konnte. Ihr Oberkörper war entblößt, die Schlaufen des B drückten ihren Händen das Blut ab, und der Druck des M auf ihrem Hals ließ sie würgen. Sie zitterte vor Grauen.
    „Du dachtest, du kannst mir entkommen“, zischte der Mann. Irgendwoher kam ihr diese Stimme bekannt vor, auch die Statur, doch die schiere Todesangst ließ sie nicht in Ruhe nachdenken.
    „Du bist … der … Bookstabber“, krächzte sie, bevor er es ihr sagen konnte. „Warum … quä-… quälst du mich …?“
    Er wandte sich nun komplett zu ihr um, doch auch jetzt ließen Schatten und Brille von seinem Gesicht nicht viel mehr als das Kinn erkennen. „Wie wäre es mit Dankbarkeit angesichts des Umstands, dass ich dir ein schlimmes Schicksal erspart habe? Dir steht nicht der Sinn danach. Nun gut, ich gestehe, ich habe nicht ganz uneigennützig gehandelt.“
    Sie hätte viel darum gegeben, wenigstens ihre Blöße bedecken zu können. Und das, obwohl sie vermutlich ganz andere Probleme hatte. „Antworte mir“, wimmerte sie. „Warum …“
    „Du wirst die Gründe früh genug erfahren“, unterbrach er sie. „In meinem Palast. Oh, ich habe mich versprochen – nein, nicht in , sondern unter meinem Palast. Im Verlies, um genau zu sein, im Folterkeller …“

8
    Sanjay war an ein aufrechtes X gefesselt, die Arme nach oben ausgestreckt, die Beine gespreizt. Der flackernde Schein mehrerer Kerzen spielte auf ihrer nackten dunklen Haut. Vier Exemplare des Buchstabens D ketteten sie an die Wand, das M fixierte wieder ihren Hals.
    Ein Albtraum. Die Wirklichkeit. Das Jenseits. Die Hölle.
    Alles zusammen.
    Sie wartete zitternd und weinend im Halbdunkel des Verlieses. Das schwache Licht reichte gerade aus, um die Sammlung
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