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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33
Autoren: Martin Clauß
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durchgeschüttelt, bis sie das Gefühl hatte, jeder ihrer Zähne löse sich einzeln aus dem Kiefer. Waren diese Schichten die Fesseln, die das Wesen hielten? Oder waren es seine Attacken, Versuche, sich zu befreien?
    In ihrem Inneren zuckte es.
    Amonke unterdrückte die Bewegung. Sie schluckte unablässig, obwohl es nichts hinunterzuschlucken gab. Was in ihr war, musste in ihr bleiben. Ruhig und still. Immer wieder dachte sie es wie einen Zauberspruch: Ruhig und still. Ruhig und still.
    Ein Schatten wischte vorbei. Etwas griff nach ihr. Nur kurz, eine flüchtige Berührung, dann verlor es sie wieder, und sie stürzte weiter. Sie drehte sich in einem Zustand der Schwerelosigkeit um ihre eigene Achse.
    Wo war sie? Das war nicht die Welt, die sie kannte.
    Funken schlugen aus der Wand des kugelförmigen Gefängnisses. Irgendwo in ihrem Blickfeld tauchte das Ende der Rinne auf, über die sie vor Sekunden gerutscht war. Im ersten Moment war sie überzeugt davon, dass diese Richtung oben sein musste. Dann korrigierte sie sich. Die Rinne war nicht mehr befestigt. Sie wirbelte in mehreren Bruchstücken auf Amonke zu. Etwas hatte sie zerschmettert!
    Die ersten beiden Trümmerteile waren riesig. Sie trudelten knapp an ihr vorbei, schlugen in die Wand ein und stießen tiefe Risse hinein. Ein anderes, kleineres Bruchstück traf scharf und schmerzhaft ihren Rücken zwischen den Schulterblättern, prallte ab und verschwand schlingernd in der entgegengesetzten Richtung, bis es ebenfalls in eine der Wände einschlug. Blut überströmte ihre Schultern und rann wie von einer Zentrifuge getrieben zu allen Seiten ihres Körpers davon – die Arme entlang, um den Rumpf herum, den Rücken hinab über ihr Gesäß und über die Beine.
    Das Gefühl, inmitten dieses Chaos ihr gesamtes Blut zu verspritzen, lähmte sie. Amonke bemerkte zunächst nicht, dass das Trümmerteil auch ihre Handfesseln durchtrennt hatte. Verkrampft hielt sie ihre Arme in der unbequemen Haltung fest, bis über ihr eine Stange auftauchte, nach der sie instinktiv griff.
    Ihre Finger schlossen sich um das runde Metall. Es war heiß, ihre Haut verbrannte bei der Berührung damit, doch sie griff nach und ertrug es für zwei Sekunden. So lange dauerte es, ihren Körper nach vorne zu schwingen, durch die Schichten hindurch, die das Chaos umhüllten. Überall stürzten Steine herab, Stahlkonstruktionen kreiselten sirrend durch die Luft, Bauteile komplizierter Gerätschaften wickelten sich an Kabeln und Drähten rotglühend auf, pendelten hin und her und hüpften wie Jojos auf und ab. Scharen leuchtender Punkte schwärmten über die dunklen Oberflächen der Maschinen, stoben auseinander, flockten und lösten sich auf.
    Die schwarze Frau tauchte mitten durch diesen Knoten aus Feuer und Zerstörung. Dutzende kleiner Splitter tätowierten sichtbare Spuren des Schmerzes in ihre Haut, drückten ihr die Brandmarken des Fegefeuers auf. Doch die mächtigeren Fragmente, die tödlichen, von denen einige größer waren als sie, verfehlten sie. Es war, als hätte das Schicksal nächtelang die Fluchtbahnen von Millionen von Trümmerstücken vorberechnet und in ihr Gehirn den einzigen Weg einprogrammiert, um zerschlissen, aber lebend aus diesem Inferno zu entkommen. Diesen Weg nahm sie. Wäre sie einen Millimeter davon abgewichen, hätte es für sie den sicheren Tod bedeutet.
    Der Schwung katapultierte sie hinaus in – sie konnte es nicht glauben – eine kühle Nacht.
    Unmöglich! Unmöglich! Sie hatte seit Monaten keine Sterne mehr gesehen, und nun hingen sie zu Tausenden über ihr, in verschwenderischer Pracht. Geräusche von Vögeln und Insekten drängten sich an ihre Ohren, übertönten das Sirren der Maschinen und das Bröckeln der Wände. Zwielicht breitete sich aus, Konturen von Pflanzen ragten in den Himmel.
    Sie öffnete den Mund. Sog die saubere Luft ein. Und schrie. Entließ all die ungeschrienen Schreie aus ihrem Inneren in die Freiheit. Das Ding in ihrem Bauch zuckte, schnappte ruckartig ihre Speiseröhre empor und schnellte für eine Sekunde aus ihrem Mund wie ein Gummiband. Als es wieder in ihr Inneres zurückkehrte, hinterließ es eine von Schmerzen hell entflammte Kehle, die für Stunden keine feste Nahrung würde transportieren können.
    Hinter ihr brach eine Wand nach der anderen zusammen. Das violette Leuchten des Chaos, in das sie gestürzt war, verwandelte sich in roten Feuerschein.
    „Komm!“, keuchte sie. „Folge mir! Das ist die Freiheit! Die Tür steht offen!“
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