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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33
Autoren: Martin Clauß
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einfallen lassen. Und? Hast du dort vieles gelernt? Europäische Zauber?“
    Enene senkte den Blick. „Die Europäer schätzen praktische Übungen nicht“, erklärte er. „Sie möchten wissen, wie die Dinge funktionieren, aber wenn der Zeitpunkt gekommen ist, das Wissen einzusetzen, fürchten sie sich davor. Sie stellen immer neue Fragen, um nicht handeln zu müssen. Wenn du sie zum Kämpfen aufforderst, sagen sie: ‚Ja, ich würde gerne kämpfen, aber ich weiß noch nicht alles, was zu wissen ist.’ So geht das bei vielen ein Leben lang.“
    Eweji schien nachzusinnen. „Sie verstecken ihre Feigheit hinter ihrem Wissen. In meinem Leben habe ich nur einen einzigen Europäer gesehen“, sagte er dann. „Das liegt fünfundzwanzig Jahre zurück. Er war nicht weise, aber gerissen.“
    „Ich weiß, Großvater.“
    „Er kam ins Dorf und erzählte von einem Orisha namens Jesus. ‚Man muss nur an diesen Orisha glauben’, sagte er, ‚und nach dem Tode wird man in einen Garten gehen, wo man den Schöpfer persönlich treffen kann’. Dein Vater war wie verzaubert von ihm. Er ließ dich und deine Mutter zurück und zog mit dem Europäer fort. Nicht einmal ein Viehdieb würde so etwas tun. Du warst damals gerade zwei Jahre alt.“
    „Ich weiß“, meinte Enene noch einmal.
    „Deine Mutter starb wenig später, und du wurdest im Haus deines Onkels großgezogen.“
    Der Greis erzählte noch eine Weile weiter, und obwohl Enene den Inhalt auswendig kannte, hörte er tapfer zu. Das genaue Alter seines Großvaters ließ sich nicht mehr ermitteln, aber dass er Siebzig überschritten hatte, daran konnte kein Zweifel bestehen – ein stattliches Alter im afrikanischen Busch. Wie alle alten Leute wiederholte auch er gerne die alten Geschichten. Das war gut so. Auf diesem Weg stellte er sicher, dass er sie nicht vergaß.
    Enenes Vater war selbst christlicher Missionar geworden. Drei oder vier Mal hatten sie einen Brief von ihm erhalten, damals war Enene noch ein Kind gewesen, zu jung, um alles zu verstehen, und das Papier war schnell vergilbt. In Europa hätte man die Schreiben vermutlich aufgehoben. Und was hätte er jetzt davon gehabt?
    Er war von Frankfurt ins nigerianische Lagos geflogen und hatte die zweihundert Kilometer bis zu seinem Heimatdorf in einem klapprigen Mietwagen zurückgelegt, der unterwegs dreimal repariert werden musste. Auf der Fahrt war er ohne Unterlass in riskante Situationen geraten: Bei halsbrecherischen Manövern anderer Verkehrsteilnehmer war er zweimal im Straßengraben gelandet, Diebe hatten ihm den fahrbaren Untersatz abzunehmen versucht, korrupte Polizisten hatten ihn grundlos stundenlang festgehalten und ihm hübsche Geldbeträge für Passierscheine abgeknöpft, die er nicht brauchte und die nichts waren als sinnlose Stempel auf leeren Papierfetzen. Enene hatte diesen weiten und beschwerlichen Weg nicht auf sich gekommen, um traurige Erinnerungen an seine Kindheit aufzuwärmen. Er hatte wichtigere Beweggründe.
    Wie sein Großvater war er Schamane geworden. Allerdings stand er ganz am Anfang dieses Weges, denn er war nach Europa gereist, ehe er alt genug war, um diesen Beruf auszuüben. Er lernte Deutsch und landete schließlich auf Schloss Falkengrund. Sein Ziel war ein Einfaches: Er wollte die Welt kennen lernen, die ihm seinen Vater weggenommen hatte. Bei seinem Hintergrund war es selbstverständlich, dass er sich nicht für Wirtschaft oder Technik interessierte, sondern für Magie und Okkultismus. Der Missionar, dem sich sein Vater angeschlossen hatte, war Deutscher gewesen. Als er zum ersten Mal einen Fuß auf deutschen Boden setzte, hatte er geglaubt, alle Deutschen müssten Ungeheuer sein, Dämonen, die den Kindern ihre Väter nahmen, so wie die Sklavenhändler in früheren Jahrhunderten den Vätern ihre Kinder genommen hatten. Mittlerweile wusste er mehr. Aber noch immer war er Afrikaner. In einen Europäer hatte er sich nie verwandelt.
    „Ich komme mit einer Frage“, sagte Enene. „Und wenn sie jemand beantworten kann, dann bist du es, Großvater.“
    „Ehe du sie stellst“, unterbrach ihn Eweji, „geh hinaus zum Krämer und besorge uns zwei Becher Palmwein. Dabei spricht es sich besser.“
    Enene gehorchte. Er tauchte in den stärker werdenden Wüstenwind hinein und konnte beobachten, wie sich allmählich dicke Wolken zusammenzogen. Das Dorf lag in der flachen Savanne an einer dieser staubigen gelben Straßen, die fast den gesamten Kontinent durchzogen. Staub ruhte jetzt, in der
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