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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33
Autoren: Martin Clauß
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Medikament einnimmt.
    Sanjay ahnte, welche Bestie ihm diese teuflische Arznei verabreicht hatte. Sie konnte es aus seinen Worten schließen.
    Der Bookstabber.
    Zu dem sie unterwegs war.

7
    Nein. Sie würde den Weg nicht fortsetzen. Ganz gleich, was dieses Individuum von ihr wollte, sie akzeptierte seine Methoden nicht. Der Bookstabber war ein kaltblütiger Mörder, der seinem Diener eine Zeitbombe einverleibt hatte, damit dieser sich mit seinem Auftrag beeilte.
    Der Raum vor ihr – jetzt schenkte sie ihm ihre Aufmerksamkeit – war ein pandämonisches Tohuwabohu aus allem, woraus die Albträume eines Schrift-Besessenen gestrickt sein mochten. Aus einem brennenden Abgrund schlugen meterhohe rote Flammen empor. Über den Höllenschlund führte eine schmale Steinbrücke, geformt aus Devanagari-Lettern, dieser indischen Schrift, die sie als Kind gelernt hatte. Da die Buchstaben alle an der Oberseite miteinander verbunden waren, bildeten sie einen Steg, doch es gab mindestens zwei Gründe, warum sie sich niemals auf diesen Übergang gewagt hätte. Erstens hatte er kaum die Breite ihres Fußes, zweitens waren die Zeichen, die unter der Brücke hingen, von Leben erfüllt. Sie pendelten lauernd hin und her und würden ihre Schlingen um die Beine der Wagemutigen schließen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot.
    Soweit sie es erkennen konnte, glühten in der Tiefe gewaltige Steine, nein, auch das waren Schriftzeichen, Maya-Zeichen, plump und kugelförmig, stilisierte Darstellungen von Menschen- oder Tierköpfen, mit kleinen Ornamenten versehen – die wohl ungewöhnlichste Schrift, die je existiert hatte. Die Lettern brannten wie dicke Kohlen. Über dem Ganzen waren ägyptische Hieroglyphen damit beschäftigt, die Decke zu zerstören. Die Vogel-Zeichen pickten Krümel für Krümel den Stein heraus, winzige stilisierte Menschen benutzten Meißel dazu, und in der Decke des Saales hatte sich bereits ein viele Meter durchmessendes Loch gebildet, hinter dem es bläulich schimmerte – möglicherweise ein Ausweg aus diesem Inferno, doch abgesehen davon, dass sie nicht wusste, wie sie dort hoch gelangen sollte, misstraute sie diesem Bild von Himmel und Hölle. Wenn sie die Prinzipien dieser Welt richtig einschätzte, dann waren die Schriftzeichen, die hinter dem Loch in der Decke lauerten, ebenso hungrig wie die, die in dem Abgrund unter der unpassierbaren Brücke glühten. Lorenz von Adlerbrunn hatte die Schrift als eine Art Werkzeug beschrieben, aber gleichzeitig war sie die Fauna dieser Welt. Schriftzeichen konnten beißen und stechen.
    Sie fürchtete den Weg zurück durch die erste Halle nicht mehr. Die Schlangen würden ihr nichts anhaben können. Ganz gleich, welcher Stachel sich auch in ihr Fleisch bohrte, sie trug das Antidot schon in sich.
    Das schienen die Schlangen zu spüren. Sie attackierten nicht, gaben ihr sogar den Weg frei, krochen zahm auf ihre Plätze zurück. So ähnlich musste sich Moses gefühlt haben, als er sein Volk durchs Meer führte.
    Sanjay folgte dem dunklen Korridor zurück. Auch wenn sie befürchtete, jeden Augenblick aus der Finsternis heraus attackiert zu werden, erreichte sie den Schacht, durch den sie herabgestiegen waren, und gelangte unbehelligt an die Oberfläche. In diese kühle, tote, verlassene Welt. Und nun? Gesetzt den Fall, sie fand den Weg zurück zu den Gemächern des Herrn dieser Welt – wollte sie ihn überhaupt gehen? Lorenz von Adlerbrunn schien keine wichtigen Antworten mehr für sie zu haben. Was ging dieser Konflikt sie an? War es nicht ihre Pflicht ihrer eigenen Seele gegenüber, sich einen neutralen Ort zu suchen, an dem sie Ruhe finden und Frieden mit ihrem Schicksal schließen konnte? Sie war nicht deshalb gestorben, um in einen Krieg um die Herrschaft über das Jenseits verwickelt zu werden. Wenn sie schon tot sein musste, dann wollte sie wenigstens eines sein:
    Frei. Erlöst.
    Anstatt den Rückweg einzuschlagen, ließ sie sich treiben, hinaus auf die größeren Straßen, wo sie Menschen vermutete. Sie fand eine dieser Straßen, einen der großen Plätze und eines der großen Gebäude, sicher nichts als ein weiteres Scriptorium. Der Anblick war ihr vertraut. Auf dem Platz gingen vereinzelte Gestalten umher, mehr von ihnen drängten sich vor den Eingängen.
    Sanjay hatte es nicht eilig, dorthin zu kommen. Selbst wenn man sie einließ, wusste sie nicht, was sie im Inneren suchen sollte. Höchstens Zuflucht. Schutz vor allen, die etwas von ihr wollten.
    Sie bemerkte, dass
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