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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33
Autoren: Martin Clauß
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unbedingt sehen.“
    „Warum das?“
    „Das müsstest du ihn bei der Gelegenheit auch selbst fragen. Er hat bestimmt … uh …“
    „Was ist los?“ Warum sprach er nicht weiter? Der junge Mann krümmte sich ein wenig, verlangsamte seine Schritte und blieb für einen Moment stehen. Es sah beinahe aus, als hätte er Magenkrämpfe.
    Magenkrämpfe – als Seele, die nichts aß und nichts trank?
    „Es geht schon wieder“, behauptete er und lief weiter, eiliger als zuvor. Fest stand, dass er Schmerzen hatte. Und dass er sie vor Sanjay zu verbergen versuchte. Wozu? Verheimlichte er ihr noch andere Dinge? Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, die Flucht könne eine Falle sein. Er gab vor, über Lorenz und diesen Bookstabber nichts zu wissen außer, wie sie hießen und dass sie gemeinsam diese Welt erschaffen hatten. Aber war das die Wahrheit? Sie konnte ja nicht einmal wissen, ob es diesen Bookstabber überhaupt gab. Es war nicht angenehm, in Richtung eines unbekannten Wesens zu fliehen, in dessen Name das Wort „zustechen“ enthalten war.
    „Bis zur Festung muss es noch ziemlich weit sein“, stellte sie fest, nachdem sie eine gefühlte Viertelstunde durch leere Hallen und Gänge gelaufen waren. Wer hatte diese Bauwerke alle gebaut, Verzeihung, geschrieben?
    „Das stimmt“, erwiderte er. Sie hatte seine Hand abgeschüttelt, doch sie blieb brav ein, zwei Schritte hinter ihm. „Der sichere Pfad ist ein riesiger Umweg. Er kostet uns zu viel Zeit. Wir nehmen jetzt eine Abkürzung.“
    „Und die ist gefährlich“, vermutete Sanjay.
    Anstatt zu antworten schlug er an einer Kreuzung den Weg in eine schmale Gasse ein, ähnlich der, in der Sanjay zu sich gekommen war. Sie folgten der sich weiter verengenden Passage und kamen zu einer Art Falltür, die witzigerweise weit offen stand. Offenbar wurde die Abkürzung auch von anderen Bewohnern dieser Welt genutzt. Dann konnte es mit ihrer Gefährlichkeit wohl nicht so weit her sein, oder?
    Zunächst ging es eine winzige Treppe hinab in völlige Dunkelheit. Unten angekommen ließ sie zu, dass er wieder ihre Hand nahm und sie vorwärts zerrte, viel zu hastig und grob. Warum hatte er es so verflucht eilig? Wollte er Lorenz‘ Einflussgebiet verlassen, ehe dieser von Sanjays Flucht Wind bekam? Oder fürchtete er den Zorn seines eigenen Herrn, wenn er nicht rasch genug mit ihr zurückkehrte?
    „Endlich!“, stieß sie hervor. „Da vorne wird es heller!“ Der unterirdische Gang öffnete sich etwa fünfzig Meter vor ihnen in eine Halle, aus der schwacher, bläulicher Lichtschein drang.
    „Deine Freude wird nicht lange anhalten“, meinte er zynisch.
    Kaum hatten sie den Saal erreicht, begriff sie, wovon er sprach. Der riesige Raum war lebendig. Die Wände bedeckten abstrakte Muster, schwarze Schlingen auf bläulich leuchtendem Untergrund, und diese Muster bewegten sich, krümmten sich wie Würmer. Nein, keine Würmer, Schlangen waren es, stolze schwarze Schlangen, augenlos, kopflos, zu beiden Seiten in Schwänzen auslaufend. Punkte schwebten wie dunkle Juwelen neben ihnen und schienen zu ihnen zu gehören. Die Schlangen reckten sich nach ihnen, wurden munter, und nicht nur die Wände, auch die Decke und der Fußboden waren voll von ihnen. Als Sanjay kurz innehielt, kamen sie von allen Seiten her auf sie zugekrochen.
    „Nicht stehenbleiben!“, warnte der junge Mann, und Sanjay setzte sich wieder in Bewegung. Fünf Sekunden lang fühlte sie sich wie gebannt von dem fantastischen Anblick. Nach all den toten, leeren Gebäuden, die sie durchquert hatten, haftete dieser lebendigen, dschungelhaften Szenerie etwas Magisches an. Sie begriff, dass es sich um arabische Schriftzeichen handeln musste, die hier zum Leben erwachten. Die schwarzen Schlangen erschienen ihr schöner, edler als das vielbeinige Ungeziefer, mit dem sie es zuvor zu tun gehabt hatte.
    „Schön, ja“, entgegnete der Mann, und sie erschrak, weil das bedeuten musste, dass sie ihren Gedanken unbemerkt ausgesprochen hatte. „Aber gefährlicher. Ihr Stich ist tödlich.“
    Stich – bei Schlangen? Ja, sie hatten kein Maul, aber zwei Schwanzenden. Stachelbewehrt wie bei einem Skorpion.
    Sanjay stieß einen Schrei aus, als eine der gekrümmten Schlangen sich lang machte und nach ihrem Fuß zuckte. Unwillkürlich zog sie den Fuß ein, und da sie ihn schon einmal in der Luft hatte, nutzte sie den Schwung und trat mit aller Kraft zu.
    „Nicht!“, rief ihr Führer. „Du darfst sie nicht zertreten. Sie werden es dir
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