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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33
Autoren: Martin Clauß
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ihren Erinnerungen auftauchte und die Umgebung wieder bewusst wahrzunehmen begann, war sie bereits auf der Flucht. Sie wusste nicht, wie sie den Raum verlassen hatte, jetzt folgte sie schon dem jungen Mann durch gleichförmige Korridore, die weder alt noch neu wirkten, einfach neutral und gesichtslos. Unwirklich. Der Mann hielt ihre Hand, führte sie, aber nicht mehr mit der Brutalität von vorher. Sie würde sich ihm entziehen können, wenn sie wollte.
    Sie wollte nicht. Weglaufen war eine gute Sache. Auch wenn man nicht verstand, was geschah und was geschehen war, tröstete es, in Bewegung zu bleiben, den Ort zu wechseln. Gerade dann.
    „Woher kennst du meinen Namen?“, erkundigte sich Sanjay. „Sind wir uns begegnet, drüben, meine ich?“
    Ihr Führer ließ ein kurzes schiefes Grinsen erkennen, dann wurde er sofort wieder ernst. „Ich würde es wissen, wenn ich dir drüben begegnet wäre“, sagte er. „Ein Mädchen wie dich hätte ich bestimmt nicht vergessen. Deinen Namen habe ich von meinem Herrn. Er hat mich geschickt, um dich zu ihm zu bringen. Er weiß alles. Er ist sehr mächtig. Er gebietet über diese Welt.“
    „Wirklich?“ Beinahe hätte sie gelacht. „Da gibt es aber noch einen, der das von sich behauptet.“
    „Lorenz von Adlerbrunn? Er ist mächtig, ja, aber mein Herr ist mächtiger.“
    „Hat dein Herr auch einen Namen?“
    „Er hat sogar viele davon. Seinen echten Namen kennt niemand außer ihm selbst. Die meisten nennen ihn nur … Bookstabber.“
    „Das ist nicht dein Ernst!“ Diesmal lachte sie tatsächlich. Ihr Lachen klang angenehm, aber es tat auch weh. Es war ein lebendiges Lachen und gehörte nicht hierher. Bookstabber – was für ein Name, bitte, war das? Das klang nach dem deutschen Wort Buchstabe , aber auch nach dem englischen to stab , und das bedeutete ja wohl zustechen . Stach da jemand auf Bücher ein? Das Bild, das da vor ihrem inneren Auge entstand, war in höchstem Maße lächerlich. Andererseits, in dieser Welt der Büchernarren hatte es etwas nahezu Befreiendes an sich, sich einen Menschen vorzustellen, der diese Bücher zerstach und in Fetzen riss. Wenn es hier irgendwo jemanden gab, der diesen schriftgeilen, tintenbeherzten Zombies Paroli bot, wollte sie ihn kennenlernen. „Wo genau bringst du mich hin?“
    „In seine Festung.“
    Das Wort Festung setzte ein Rädchen in ihrem Kopf in Bewegung. „Sprechen wir vielleicht über gewaltige, klotzige Türme, die weit in den Himmel reichen und alle anderen Gebäude überragen?“ Sie musste an den Gebäudekomplex denken, auf den sie von der Luft aus aufmerksam geworden war. Er schien ein gutes Stück entfernt zu sein. Lorenz von Adlerbrunn hatte ihn als gefährliches Gebiet bezeichnet. War sie etwa zwischen zwei rivalisierende Mächte geraten, die beide die Herrschaft über diese Welt, das Jenseits, für sich beanspruchten?
    „Die Beschreibung könnte stimmen“, räumte der Mann ein. „Aber mit Sicherheit kann ich es nicht sagen. Ich habe die Festung nie von oben gesehen.“
    „Was weißt du über Lorenz von Adlerbrunn?“ Obwohl sie rasch gingen, konnte sie nebenher reden, ohne schwer zu atmen. Sie atmete überhaupt nicht. Das ergab einen Sinn, wenn man bedachte, was sie war: ein Überbleibsel eines lebenden Menschen, eine Notiz auf einem göttlichen Blatt Papier. Ein Schriftzeichen.
    Der Mann führte sie durch eine riesige, menschenleere Halle. „Über Lorenz weiß ich nur eines: Er hat diese Welt zusammen mit meinem Herrn geschaffen.“
    „Aber man kann doch das Jenseits nicht erschaffen“, widersprach sie. „Das muss es doch schon immer gegeben haben. Lorenz hat mir verraten, dass er im Jahr 1848 geboren ist. Wir schreiben jetzt 2005. Das würde bedeuten, das Jenseits ist gerade mal hundert oder hundertfünfzig Jahre alt. Das ist doch … hanebüchen. Ich meine, wohin sind die Seelen der Leute gegangen, die in früheren Jahrhunderten gestorben sind?“
    „Vielleicht ist diese Welt hier nicht das Jenseits“, gab der junge Mann zu bedenken. „Es könnte ja ein Jenseits sein.“
    „Eines von mehreren, meinst du?“
    „Oder eines von vielen.“
    Oder eine Imitation eines Jenseits , schoss es ihr durch den Kopf. Der Gedanke verstörte sie, obwohl er nach dem ersten Teil einer Reihe von Antworten klang. „Warum sollte es überhaupt Menschen geben, die ein Jenseits erschaffen können? Und andere, die darin landen?“
    „Das weiß ich nicht. Du solltest die Frage dem Bookstabber stellen. Er will dich
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