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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33
Autoren: Martin Clauß
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von Adlerbrunn nannte, sich hier wohlfühlte. Ein Palast jedenfalls war es nicht, eher schon ein Versteck oder eine Festung.
    Bei der Landung in der schmalen Kluft zwischen zwei dieser Kästen fühlte sie sich längst nicht so erleichtert, wie sie es gerne gehabt hätte. Ihr fiel jetzt auf, dass das Fluggerät die Form des Buchstabens A hatte, vielleicht der Initial seines Familiennamens.
    Sie wurden von seltsamen Wesen empfangen, seine Diener vielleicht, die menschlich und doch nicht menschlich schienen. Gummiartig und schlank waren sie, als hätten sich die Knochen in ihren Körpern aufgelöst. Bei einigen schien dieser Prozess so weit fortgeschritten zu sein, dass sie sich kaum mehr aufrecht zu halten vermochten, andere rangierten noch nahe an der Vorstellung, die sie von Menschen hatte. Im Scriptorium und auf den Straßen waren ihr diese Wesen nicht aufgefallen. Was hatten sie mit dem Herrn dieser Welt zu tun?
    Lorenz von Adlerbrunn führte sie ins Innere des Gebäudes. Er tat es linkisch und dennoch mit einem Hauch von Würde, ein großer Einsamer, erhaben und ungeschickt zugleich, jemand, der tief in sich versunken war und der kein Talent für den Umgang mit Menschen besaß.
    „Sag mir jetzt, wer ich bin!“, drängte sie, während sie den großen, nahezu leeren Saal betraten. Ein langer Tisch erinnerte an die Tafel in einem Schloss. Sie kniff die Augen zusammen, denn auf der Tischplatte standen merkwürdige schwarz wabernde Objekte, offenbar Kerzenständer und Gefäße, undeutlich und verschwommen, als gehörten sie nicht vollständig zu dieser Welt. Geister-Gegenstände, faszinierend anzusehen, aber gruselig, verstörend.
    „Experimente“, erklärte der Mann und setzte sich auf den Stuhl an der Stirnseite, wie es sich für den adligen Herrn eines Schlosses geziemte. „Versuche mit alten Schriften. Teile der Einrichtung dieses Palastes sind in demotischen Zeichen verfasst. Das ist eine ägyptische Schrift. Ein komplexes System, dem es leider an Eindeutigkeit fehlt.“
    „Du schreibst die Einrichtung – wie man mit dem Computer ein Programm schreibt?“
    Er hob die Schultern. „Ich weiß nicht, was du unter einem … Kompjuhter verstehst. Aber ja, ich schreibe die Einrichtung. Natürlich. Es gibt keine andere Möglichkeit, hier sonst etwas zu schaffen.“
    „Das Material für die … Häuser, die Möbel … es muss doch irgendwo herkommen …“
    „Das Material ist Schrift. Zeichen in den richtigen Kombinationen. Schrift kann hart sein oder weich, kalt oder heiß.“
    „Du kennst keinen Computer. Also stammst du nicht aus meiner Zeit.“ Auch wenn sie sich nicht an die persönlichen Details ihres Lebens erinnern konnte, wusste sie doch, wie die Welt ausgesehen hatte. Sie konnte sich Straßenzüge vorstellen, entsann sich sogar einiger Lieder, die sie gehört hatte. Complicated von Avril Lavigne. Sie hätte zu gerne gewusst, in welchen Situationen sie es gehört hatte, wo und mit wem. „In welchem Jahr bist du geboren?“, fragte sie.
    „Das war 1848. Viele Jahrhunderte in der Vergangenheit.“
    Sie runzelte die Stirn. Es kam ihr vor, als liege 1848 weit zurück, aber nicht gerade viele Jahrhunderte , doch sie konnte nicht sicher sein, denn die aktuelle Jahreszahl fiel ihr nicht ein. Ihr Todesjahr. Stand es irgendwo in der anderen Welt auf einem Kreuz, vor dem jetzt Menschen standen und weinten? Sie wollte sie sehen, wollte einen Blick hinüber auf die andere Seite werfen, auch wenn es ihr das Herz brechen würde. „Du hast vorher meine Frage nicht beantwortet. Wer bin ich?“
    „Ich weiß es nicht.“ Das klang aufrichtig.
    „Bin ich … unter allen Menschen, denen du hier begegnet bist, der erste, der sich an dieses … Falkengrund erinnern kann?“
    Er nickte.
    „Was habe ich dort getan, auf Falkengrund?“
    „Das werden wir beide zusammen herausfinden. Du wirst hierbleiben, bis wir es wissen. Welche Art von Gemach wünschst du dir? Ich werde dir eines schreiben.“
    Eines schreiben. Sie sah sich um und gruselte sich. „Keine Gespenster-Einrichtung, bitte“, kam es schnell aus ihrem Mund.

5
    Kaum war sie alleine, schwappte die zweite Welle der Verzweiflung über sie, viel stärker als zuvor auf dem Fluggerät. So lebendig und aktiv sie auch auf dieser Seite der Wirklichkeit sein mochte, sie spürte ihren Tod, sie spürte die Endgültigkeit des Schicksals und die Sinnlosigkeit ihrer Existenz hier. Sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie die andere Welt ausgesehen hatte, aber diese
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