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Evil - Das Böse

Evil - Das Böse

Titel: Evil - Das Böse
Autoren: Jan Guillou
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ihn wirklich nach hundert Jahren fand, würde dieser Jemand nie und nimmer den Zusammenhang begreifen können. Denn es würde keine einzige Spur von Stjärnsberg mehr geben, nicht einen einzigen Stein.
    Der Zug fuhr mit einem plötzlichen Rucken an. Der Bahnhofsvorsteher ging mit seiner zusammengerollten Flagge zurück ins Bahnhofsgebäude.
    Er öffnete das Fenster, beugte sich hinaus und ließ den Sommerwind den Gestank des verbannten Abzeichens davontragen. Dann warf er die Zigarette hinaus, zog die andere aus der Tasche und warf sie hinterher. Er hatte keinen Grund mehr zu rauchen.
    Er sah mit Augen, in die der Fahrtwind Tränen treten ließ, wie die sörmländische Landschaft vorüberglitt; Fliederbüsche, blühende Obstbäume (Äpfel konnten das nicht mehr sein, blühten jetzt die Pflaumen?), Bauernhöfe, wo hinter einem Traktor oder einer Scheune Menschen zu sehen waren, Vieh, Autos auf den Straßen und hier und dort Seen und Wäldchen -die freie Welt sah so aus.
    Er setzte sich, schloss die Augen und sah vor sich Bilder von Pierre und Marja. Bald würde er sie wiedersehen können, er hatte ja Geld, er könnte auch im Hafen arbeiten, ohne das Risiko diesmal, als zu jung ertappt zu werden, und er könnte beschließen, nach Genf und nach Savolaks zu fahren. Erst nach Savolaks, dann nach Genf.
    Er stand wieder vor dem offenen Fenster und hielt wie ein Hund witternd seinen Kopf in den Wind, als der Zug in den Stockholmer Hauptbahnhof einfuhr. Der Riddarfjärd glitzerte in der Sonne. Er war jetzt frei, niemand wusste, wer er war, deshalb gab es auch keine Gewalt mehr. Es war vorbei, endlich war es vorbei und er war frei und glücklich.
    Als er die Wohnung betrat, war niemand zu Hause. Er warf seine Taschen mit den schweren Büchern in das Zimmer, das einst ihm und seinem kleinen Bruder gehört hatte. Jetzt gehörte es offenbar nur noch dem kleinen Bruder. Er packte einige seiner Bücher aus und stand eine Weile da, mit einem Paar trockener und schlecht gepflegter Spikes in der Hand. Sie waren von Puma und aus echtem Känguruleder. Aber sie waren ihm sowieso zu klein. Kein Grund also, deshalb traurig zu sein.
    Er wühlte ein wenig in den Schränken, um irgendwo Platz für seine Sachen zu finden. Ganz oben in einem Kleiderschrank, hinten auf der Hutablage, fand er ein Paket, auf dem sein Name stand. Es war zwei Jahre zuvor von seiner alten Schule geschickt, aber niemals geöffnet worden; es war ziemlich groß und weich und musste also irgendetwas aus Stoff enthalten. Er nahm das Paket herunter, legte es auf den Schreibtisch und versuchte, den Inhalt zu erraten.
    Er kam einfach nicht drauf. Aber als er das Paket dann aufgerissen hatte, lachte er lange und fast glücklich. Es war eine alberne kleine Seidenjacke mit Drachenmuster auf dem Rücken, sie war einmal sein liebster Besitz gewesen.
    Er nahm die Jacke und hielt sie lächelnd vor sich. Sie sah fast aus wie eine Kinderjacke. Als er zum Spaß einen Arm hineinschob, ächzte der spröde Stoff bereits, als sein Unterarm noch versuchte, sich in das Stück unterhalb der Schulter zu bohren.
    Er ging ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Er blieb lange stehen und sah sich an und versuchte auf irgendeine Weise, die Sache im Ganzen zu begreifen. Er war also erwachsen. Er war eins fünfundsiebzig und wog 74 Kilo, er war sechzehneinhalb und hatte ziemlich viele Pickel. Als er sich näher an den Spiegel heranbeugte, sah er hier und dort in seinem Gesicht die weißen Narben. Wie ein unbehaglich kalter Windhauch flatterte die Erinnerung an den kotzenden Silverhielm zwischen ihm und seinem Spiegelbild vorbei.
    Er legte sein Zeugnis auf den Flügel und ging zur Post, um das Preis-Buch mit dem Schulsiegel seinem rechtmäßigen Empfänger nach Genf zu schicken. Auf dem Heimweg ging ihm auf, dass ihn auf der Straße niemand erkannt hatte. Er dachte, so müsse es sein, sich frei zu fühlen. Nichts war einem anzusehen, niemand konnte wissen, dass man von seinem solchen Ort kam.
    Zu Hause hörte er schon unten auf der Treppe, dass sie spielte. Es klang wie eine gewisse Festpolonaise in F-Dur.
    Als er das Zimmer betrat, erhob sie sich langsam und lächelnd und streckte die Arme aus, dann umarmten sie einander lange und wortlos. Sie kam ihm jetzt viel kleiner vor, ihr Körper schien in den zwei Jahren etwas Vogelähnliches angenommen zu haben. Vorsichtig befreite er sich aus ihrem sanften Griff, dann trockneten sie sich gegenseitig die Tränen.
    Beim Essen kam er sich noch immer
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