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Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war

Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war

Titel: Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
Autoren: Anna Carey
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weg.

DREI
    Als ich zur Schule zurückkam, war ich klatschnass und von meinen Händen tropfte Blut. Beim Überqueren des Sees hatte ich mir nicht einmal die Mühe gemacht, meine Hände mit Socken zu umwickeln, ich wollte bloß Abstand zwischen mir und dem Gebäude. Ich kümmerte mich nicht darum, dass sich die Dornen in meine Haut bohrten, sondern richtete den Blick fest auf mein Zimmerfenster und ignorierte die Schmerzen.
    Als die Wächterin bei ihrer Runde hinter dem Wohnheim verschwand, rannte ich ans Ufer, mein Nachthemd war schwer vom Wasser. Obwohl noch immer einige Fackeln brannten, lag die Rasenfläche im Dunkeln und ich konnte in den Bäumen die Eulen hören, die mich wie Cheerleader anfeuerten. Bis zu dieser Nacht hatte ich noch nie gegen die Regeln verstoßen. Bevor der Unterricht überhaupt losging, saß ich bereits mit aufgeschlagenen Büchern an meinem Tisch. Jeden Abend lernte ich zusätzlich zwei Stunden. Ich schnitt sogar, wie man es mir eingebläut hatte, mein Essen ordentlich klein, indem ich den Zeigefinger auf den Messerrücken presste. Doch jetzt hallte nur noch eine Regel in meinem Kopf wider. Geht niemals auf die andere Seite der Mauer, hatte Lehrerin Agnes damals im Kurs über die Gefahren von Männern und Jungen gewarnt, als sie uns den Akt der Vergewaltigung erklärte. Dabei hatte sie uns so lange mit ihren wässrigen, rot unterlaufenen Augen angestarrt, bis wir den Satz wiederholten, es war ein erzwungenes Herunterleiern.
    Geht niemals auf die andere Seite der Mauer.
    Doch keine Männerbande oder Höhle mit hungrigen Wölfen jenseits der Mauer konnte schlimmer sein als das Schicksal, das mich hier in der Schule erwartete. In der Wildnis hätte ich eine Wahl – egal, wie gefährlich, egal, wie furchterregend. Ich würde entscheiden, was ich essen wollte, wohin ich gehen wollte. Ich würde weiterhin die warme Sonne auf der Haut spüren.
    Vielleicht würde es mir wie Arden gelingen, durch das Tor zu entkommen. Ich könnte bis zum Morgen warten, wenn die letzte Essenslieferung für die Feier eintraf. Durch ein Fenster zu fliehen, wäre schwieriger. Die Bibliothek lag am Rande des Schulgeländes, sodass ich vom Fenster auf die Mauer springen könnte. Von dort wäre es aber ein Sprung in über fünfzehn Meter Tiefe und ich würde ein Seil brauchen, einen Plan, um mich irgendwie herunterzulassen.
    Im Haus schlich ich mich zu einem engen, schwach beleuchteten Treppenhaus und achtete darauf, kein Geräusch zu verursachen. Ich würde nicht alle retten können. Aber ich musste in unser Zimmer und Pip aufwecken. Vielleicht könnten wir auch Ruby mitnehmen. Es wäre nicht viel Zeit für Erklärungen, aber wir könnten eine Tasche packen mit ein paar Klamotten und Feigen und den Bonbons in Goldpapier, die Pip so lecker fand. Heute Nacht würden wir für immer weggehen. Und nie wieder an die Schule denken.
    Ich huschte in den ersten Stock und den Korridor hinunter, an einem Zimmer nach dem anderen vorbei, in denen sich Mädchen in ihre Betten kuschelten. Durch eine Tür konnte ich Violet sehen, die zusammengerollt dalag und im Schlaf lächelte, ohne auch nur ansatzweise zu erahnen, was sie am nächsten Tag erwartete. Ich war nur Schritte von meinem eigenen Zimmer entfernt, als im Gang plötzlich ein unheimliches Licht aufleuchtete.
    »Wer ist da?«, fragte eine raue Stimme.
    Ich drehte mich langsam um und mir gefror das Blut in den Adern. Am Ende des Gangs stand Lehrerin Florence und hielt eine Petroleumlaterne in die Höhe. Die Lampe warf schwarze, bedrohliche Schatten auf die Wand.
    »Ich war bloß …« Mir versagte die Stimme. Vom Saum meines Nachthemdes tropfte Seewasser und bildete eine Pfütze zu meinen Füßen.
    Lehrerin Florence kam auf mich zu, man sah ihrem sonnenfleckigen Gesicht an, wie ungehalten sie war. »Du hast den See überquert«, stellte sie fest. »Du hast die Absolventinnen gesehen.«
    Ich nickte und dachte wieder an Sophia auf ihrem Krankenhausbett, an ihre blau umschatteten Augen, die in tiefen Höhlen in ihrem Gesicht lagen. An die Blutergüsse an ihren Handgelenken und Knöcheln, weil sie an den Ledergurten gezerrt hatte. Der Druck in meinem Inneren wurde immer größer, wie bei einem Kessel, kurz bevor das Wasser zu kochen anfängt. Ich hätte gern geschrien. Alle aus ihren Betten hochfahren lassen. Diese schmale Frau an den Schultern gepackt und meine Finger in ihren Arm gebohrt, bis sie den Schmerz fühlte, den ich in diesem Augenblick fühlte, die Angst und Verwirrung. Den
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