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Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war

Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war

Titel: Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
Autoren: Anna Carey
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Betrug.
    Doch all diese Jahre, in denen ich mit im Schoß gefalteten Händen still dagesessen hatte, als ich zugehört und nur dann gesprochen hatte, wenn man mich dazu aufforderte, hatten mir den Gehorsam zur Gewohnheit werden lassen. Was, wenn ich zu schreien anfangen würde, in die Stille der Nacht hinein? Ich hatte nichts in der Hand, womit ich die anderen Mädchen überzeugen könnte. Niemals würden sie glauben, dass die Berufe nur eine Lüge waren. Sie würden mich für verrückt halten. Eve, die unter der Belastung der Abschlussprüfung durchdrehte. Eve, die Irre, die Tiraden über schwangere Absolventinnen abließ. Schwangere Absolventinnen! Sie würden mich auslachen. Man würde mich einen Tag früher als die anderen in das Gebäude schicken und mich zu dauerhaftem Schweigen zwingen.
    »Es tut mir leid«, setzte ich an. »Ich war bloß …« Mir entwischte eine Träne.
    Lehrerin Florence nahm meine Handfläche und fuhr über einige Hautfalten, in denen das Blut bereits angetrocknet war. »Ich kann nicht zulassen, dass du die Schule in diesem Zustand verlässt.« Als sie die verletzte Haut untersuchte, streifte ihr drahtiges weißes Haar mein Kinn.
    »Ich weiß, es tut mir leid. Ich gehe zurück ins Bett und –«
    »Nein«, erwiderte sie ruhig. Als sie aufsah, waren ihre Augen glasig. »Nicht in diesem Zustand.« Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres Nachthemds und wickelte es um meine Hand. »Ich kann dir helfen, aber wir müssen die Wunde säubern. Schnell. Wenn es die Schulleiterin mitbekommt, lässt sie uns beide einsperren. Hol deine Sachen und wir treffen uns unten.«
    In diesem Moment wäre ich ihr am liebsten um den Hals gefallen, doch sie drängte mich Richtung Tür. Ich war schon auf dem Weg in mein Zimmer, um Pip und Ruby zu holen, da rief mir die Lehrerin hinterher, noch immer im Flüsterton.
    »Eve, du wirst allein gehen – du darfst niemand anderen aufschrecken.« Ich wollte protestieren, aber sie ließ keine Widerrede zu. »Es geht nicht anders«, sagte sie ernst und war schon fast am Ende des Korridors, die Laterne in ihrer Hand schwankte.
    Ich lief im Dunkeln durchs Zimmer und packte geräuschlos den einzigen Rucksack, den ich besaß. Pip rührte sich nicht in ihrem Bett. Du wirst allein gehen, der Befehl der Lehrerin klang mir im Ohr. Ich hatte mein ganzes Leben getan, was man mir befohlen hatte, und war hintergangen worden. Ich konnte Pip wecken und die Lehrerin bitten, uns beiden zu helfen. Was aber, wenn Pip mir nicht glaubte? Was, wenn sie die anderen weckte? Und was, wenn die Lehrerin sagte, dass sie uns nicht beiden helfen konnte, dass zwei von uns es nie unbemerkt nach draußen schaffen würden? Dann wäre es für uns beide vorbei. Für immer.
    Pip drehte sich um und murmelte etwas im Schlaf. Ich nahm die Hose, die wir bei den Gymnastikübungen trugen, und den seidenen Beutel mit meinen Lieblingssachen. Er enthielt einen winzigen Plastikvogel, den ich vor Jahren im Schlamm gefunden hatte, die goldene Einwickelfolie des ersten Lutschers, den mir die Schulleiterin jemals gegeben hatte, das kleine, angelaufene Silberarmband, das ich gerettet hatte, nachdem ich mit fünf auf die Schule gekommen war; und schließlich den einzigen Brief, den ich von meiner Mutter besaß, das Papier war schon ganz vergilbt und an jedem Falz eingerissen.
    Ich zog den Reißverschluss zu und hätte gern mehr Zeit gehabt. Pips blasses Gesicht lag in das Kissen gedrückt, ihre Lippen bewegten sich leicht beim Atmen. In einem dieser Bücher aus der Zeit vor der Epidemie, die in der Bibliothek standen, hatte ich einmal gelesen, dass Liebe bedeutet, Zeuge zu sein. Dass schon der bloße Akt, das Leben von jemandem wahrzunehmen, einfach da zu sein, bedeutet: Dein Leben ist es wert, gesehen zu werden. Wenn das stimmte, hatte ich nie jemanden so sehr geliebt wie Pip, und niemand hatte meine Liebe mehr erwidert. Denn Pip war da gewesen, als ich mir das Handgelenk beim Handstand auf dem Rasen verdrehte. Sie hatte mich in den Arm genommen, als ich meine blaue Lieblingsbrosche verloren hatte, die angeblich meiner Mutter gehörte. Und sie war es, die mit mir unter der Dusche Lieder trällerte, die wir auf alten Platten in den Archiven entdeckt hatten. Let it be, let it be! , schmetterte Pip lautstark, während ihr Shampooschaum übers Gesicht lief, auch wenn sie den Ton nie ganz richtig traf.
    Ich ging zur Tür und sah ein letztes Mal zu ihr zurück. Pip hatte mich damals in jener ersten Nacht in der Schule weinen
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