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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Autoren: Francesca Melandri
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dürfen.
    Die drei älteren Schwestern sahen zu, dass sie rasch einen Bräutigam fanden, um wenigstens unter einem Dach zu schlafen, das sie ihr eigenes nennen konnten. Und Hermann, dem Jüngsten, blieb nichts anderes übrig, als sich als Knecht zu verdingen, auf den reicheren Höfen mit den flacheren Hängen, auf denen man beim Mähen beide Beine belasten konnte und die Erde auf den Feldern auch nach einem mächtigen Wolkenbruch blieb, wo sie war, und nicht zu Tal rutschte. Da war er elf Jahre alt.
    Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr passierte es ihm jede Nacht, dass er, der nie länger als einen halben Tag von seiner Mutter getrennt gewesen war, aus Angst und Einsamkeit sein Bett einnässte. Von seinem gefrorenen Urin wie von einem Leichentuch umhüllt, wachte Hermann im Winter dann auf irgendeinem der zugigen Speicher auf, wo die Bauern Knechte wie ihn übernachten ließen. Wenn er sich von seinem Strohlager erhob, zerbarst dieses dünne Futteral mit einem leisen Knistern.
    Es war der Klang seiner Einsamkeit und seiner Scham, des Verlustes und des Heimwehs.

Km 0
    Wenn man in östliche Richtung fliegt, soll der Jetlag noch schlimmer sein, sagen alle. Wer sich gegen die Sonne wen det, den bestraft sie, indem sie ihn um den Schlaf bringt. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, so meinen Schlaf zu vergeuden.
    In München hat mich Carlo am Flughafen abgeholt, was ich meiner Mutter niemals erzählen würde, denn ich weiß, dass sie ihn nicht mag, ihn nie gemocht hat. Vielleicht weil er sie damals, als ich ihn ihr vorstellte, nicht hofiert hat, nicht die Spur, nur höflich war er. Allerdings ist er Ingenieur, das darf man nicht vergessen, ein Mann, zu dessen Beruf es gehört, die Dinge wört lich zu nehmen, sonst würden die Brücken und Viadukte, die er baut, nicht lange stehen. Meiner Mutter schönzutun wäre ihm wie eine Respektlosigkeit mir gegenüber vorgekommen. Wie wenig er doch verstanden hat. Von mir – und von ihr ganz zu schweigen.
    Es liegt nun zehn Jahre zurück, dass ich Carlo meiner Mutter vorstellte. Wir wollten sie das lange Wochenende über Allerheiligen besuchen, und sie empfing uns auf dem Hof meiner Patin Ruthi. Wie im Prospekt eines Einrichtungshauses saß sie da in der mit Tannenholz getäfelten Stube. In ihrer mit Spitzen besetzten Bluse und der Baumwolljacke mit Hornknöpfen sah sie so durch und durch tirolerisch aus, dass es nur noch von einem Dirndl zu übertreffen gewesen wäre. Vielleicht war es ihr wichtig, sich Carlo in dieser bäuerlich pittoresken Atmosphäre zu präsentieren, fast so, als wolle sie ihre Identität inszenieren. Obwohl sie in Wahrheit nie eine Bäuerin war.
    Carlo plauderte mit ihr, erkundigte sich nach ihrem Gesundheitszustand, hielt ihr die Tür auf, als wir auf den Hof traten, um uns zu verabschieden. Aber kein einziges Mal hat er ihr lachend in die Augen geschaut, kein einziges Mal ihr gesagt, dass ihm bei ihrem Anblick nun endlich klar werde, woher meine Schönheit stamme. Aber vor allen Dingen hatte er keine Lust, mit ihr Watten zu spielen. Und das hat meine Mutter ihm wohl nie verziehen. Carlo entschuldigte sich damit, dass er die Regeln dieses Kartenspiels nicht kenne. Die Regeln! Nein, er hatte wirklich gar nichts verstanden.
    Deshalb nehme ich ihn nun nicht mehr mit, wenn ich sie besuche: Sie mag Carlo eben nicht, und das hat nichts damit zu tun, dass er verheiratet ist und drei Kinder hat, die ich nie kennengelernt habe; und auch nicht damit, dass er in den elf Jahren, die wir jetzt zusammen sind, nie die Möglichkeit erwähnt hat, sich von seiner Frau scheiden zu lassen.
    Das sind nicht die Dinge, auf die es meiner Mutter ankommt.
    Ich trat durch die Glastür der Ankunftshalle für internationale Flüge, an meiner Seite ein vielleicht fünfzigjähriger Mann, der meinen Gepäckwagen schob: Jack Radcliffe aus Bridgeport, Connecticut, Manager in einem Unternehmen für landwirtschaft liche Maschinen, zu Gast in München anlässlich einer Fachmesse seiner Branche. Groß gewachsen, grau meliertes Haar, tadelloser blauer Anzug. Ich selbst war nach den neun Stunden Flug immer noch so gekleidet und geschminkt, wie ich mich für die Vernissage in New York, von der ich zurückkam, zurechtgemacht hatte: Donna-Karan-Kostüm aus pistaziengrünem Jersey, Tropfenohrringe und Ballerinas an den Füßen. Wir bildeten sicherlich kein unansehnliches Paar. Getrübt wurde dieses Bild nur durch den glasigen Blick des Amerikaners und seine veilchenblaue Nase: Der
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