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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Autoren: Francesca Melandri
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nicht mehr für lange. In zwei Stunden werden die zwischen den Stützpfeilern gespannten Drahtseile damit beginnen, sie den Berg hinaufzuziehen, die Tausende, Zehntausende von Skifahrern in der Sekunde, die unser Tal braucht, um weiter so opulent leben zu können wie bisher. Ich an erster Stelle: ohne Fabrik keine Touristen, ohne Touristen keine Hotels, ohne Hotels kein Wohlstand, ohne Wohlstand keine Events, die zu organisieren wären. Und das hieße für mich: keine Reisen mehr, keine Prada-Schuhe, keine Vernissagen von jungen asiatischen Künstlern in Chelsea, keine Reisen nach Indonesien oder Yucatán. Selbst auf Männer wie Jack Radcliffe aus Bridgeport, Connecticut, müsste ich verzichten, mit ihren entgeisterten, glasigen Blicken und geplatzten erotischen Phantasien.
    Gelobt sei die sogenannte Fabrik, die zufriedene Skifahrer zu unser aller Wohl produziert.
    In die Decke gemummelt, die mir meine Mutter geschenkt hat, nippe ich an meinem Kaffee. Es ist eine Patchworkdecke, hergestellt aus Quadraten, die sie aus meinen alten Kinderpullovern gewonnen hat. Biedere Farben, die schlecht zusammenpassen. Zeugnisse einer Zeit, in der man schon froh war, überhaupt etwas zum Anziehen zu haben, und kein Mensch an Ästhetik dachte: lodenblau, apfelrot, mausgrau, tannengrün. Ein orange farbenes Quadrat (von welchem Pullover stammt das denn noch?) hebt sich besonders unschön von den anderen ab. Die Decke ist ein Fremdkörper in meinem elegant eingerichteten Haus, in dem alles auf pistaziengrüne und aquamarinfarbene Töne abgestimmt ist, und fühlt sich kratzig wie Stacheldraht an, als sei die Wolle noch nicht einmal gekämmt worden. Ich erinnere mich noch gut, wie diese Pullover an den Armen kratzten. Wie habe ich das nur ausgehalten? Kein Zufall, dass ich heute nur noch Mohair- und Kaschmirpullover trage.
    Das Telefon klingelt.
    In der Stille des Tagesanbruchs lässt mich der schrille Ton zusammenzucken, und fast hätte ich meinen Kaffee verschüttet. Ich ersten Moment will ich rangehen, doch dann halte ich inne. Wer soll mich um diese Zeit denn anrufen? Da wird sich jemand verwählt haben. Ich lasse den Anrufbeantworter anspringen.
    » Risponde il numero … /Hier spricht der Anrufbeantworter …«
    Endlich ist Signorina Telecom /Fräulein Telekom mit ihrer fehlerlosen Hommage an die Zweisprachigkeit fertig, und ich warte auf eine Nachricht.
    Ein langes Schweigen. Aber am anderen Ende der Leitung ist noch jemand dran, das meine ich wahrzunehmen. Dann, etwas deutlicher, das schwache Geräusch eines Atemzugs. Das darf doch nicht wahr sein, jetzt geht das schon so früh am Morgen mit diesen Belästigungen los. Vor der Schule noch. Entweder liegt es an der schlaflosen Nacht oder an dem Jetlag, jedenfalls schießt mir das Adrenalin warm ins Blut. Mit einem Ruck nehme ich den Hörer ab.
    »Jetzt reicht’s aber! Lasst mich endlich in Ruhe.«
    »Eva …, bist du das?«
    Eine Männerstimme. Nicht mehr jung. Erschöpft oder krank. Vielleicht beides. Ich bin verwirrt.
    »Wer ist da?«
    Eine Pause.
    »Sisiduzza … Darf ich dich noch so nennen?«
    Ich starre auf das orangefarbene, herausstechende Quadrat der Decke. Ich muss meine Mutter wirklich mal fragen, woher die Wolle stammt. Vielleicht gar nicht von einem meiner Pullover, sondern von Ruthi.
    »Das kann nicht wahr sein …«, murmele ich.
    »Doch, ich bin es wirklich, Vito.«
    Ich hebe den Blick. Die Sonne ist aufgegangen und taucht meinen Kelim in ein goldenes Licht.
    Wehe den Töchtern liebloser Väter: Ihr Schicksal ist es, ungeliebt zu bleiben. Nur einmal in ihrem Leben konnte sich meine Mutter Gerda der Liebe eines Mannes gewiss sein – und ich der eines Vaters. All die anderen kamen und gingen wie ein Wolkenbruch im Sommer: Wir haben uns schlammige Schuhe geholt, aber die Wiesen sind trocken geblieben. Mit Vito hingegen war es etwas anderes. Das war echt. Für sie und für mich war seine Gegenwart wie ein langer Regen im Juni, der das Gras wachsen lässt und die Quellen speist. Und doch hat uns, danach und für immer, die Trockenheit nicht verschont.
    Ihm bleibe nicht mehr viel Zeit zu leben, hat Vito mit angestrengter Stimme zu mir gesagt.
    Und hinzugefügt: »Ich möchte dich gern noch einmal sehen.«
    Wenige Stunden später bin ich schon auf dem Weg, Richtung Süden. Ich fahre zu ihm.

1925 – 1961
    »Vofluicht no amol!« , machte sich Hermann mit lauter Stimme Luft. »Vofluichtes Scheisszoig!«
    Ihm war der Korb umgefallen, den er für einen Bauern zum Markt
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