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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Autoren: Francesca Melandri
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transportieren sollte, und Graukäse- Laibe in den ver schiedensten Formen waren über den Boden gerollt.
    Weder ›Maledizione!‹ noch ›Caspita!‹ hatte er geflucht, wie es die nun geltenden faschistischen Gesetze, nach denen in der Öffentlichkeit nur noch die italienische Sprache verwendet werden sollte, eigentlich vorschrieben. Und erst recht nicht ›Ostia!‹ (Hostie), was zwar nicht illegal, weil italischer Herkunft, aber Gotteslästerung gewesen wäre. Nein, auf Deutsch hatte er geflucht. Oder genauer, im Dialekt. Nun kam aber gerade ein Beamter des Katasteramtes vorüber, hörte Hermann und fühlte sich aufgefordert, die römische Kultur Südtirols oder besser des Alto Adige zu verteidigen, schlug ihm mit der tintenbefleckten flachen Hand mitten ins Gesicht und riss ihm die blaue Arbeitsschürze, den Tiroler Bauernschurz, vom Leib.
    Kein Deutsch in der Öffentlichkeit, keine Tiroler Trachten, keine Dirndl oder Lederhosen: Alles, was daran hätte zweifeln lassen können, dass der heilige italische Boden bis zum Brenner, der neuen Staatsgrenze, reichte, musste verschwinden. So bestimmten es die Gesetze des faschistischen Italien. Und keiner der Bauern und Knechte auf dem Markt hob den Blick oder sprang Hermann gar bei.
    Doch trotz der Ohrfeige und der Demütigung, oder vielleicht auch gerade deswegen, sah man nicht lange darauf an Hermanns Hemdkragen das cimice , Wanze, genannte faschistische Parteiabzeichen mit dem Rutenbündel blitzen, was man im örtlichen Parteibüro mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Er bekam eine Arbeit, lernte Lastwagenfahren und war nun für den Holztrans port zwischen den Tälern zuständig. Und dabei drückte man auch ein Auge zu, wenn er sich mit den Waldarbeitern auf Deutsch unterhielt. Denn so weit oben, zwischen den gottverlassenen Felswänden und Steilhängen, würde sie noch nicht einmal der Duce hören können.
    Einige Jahre waren vergangen, als Hermann eines Tages auf der Hauptstraße der Provinzstadt eine Schar Goldfasane erblickte: So nannte man die von der SA. Ihre Blicke waren scharf wie Klingen, darauf ausgerichtet, alles, was ihnen beim Aufbau des glorreichen Tausendjährigen Reiches im Weg war, niederzustrecken. Wie sie da entlangmarschierten in ihren tadellosen Uniformen, aufrecht, arisch, grenzenlos deutsch, fand Hermann sie so schön wie Halbgötter.
    Und er beschloss, einer von ihnen zu werden.
    Vielleicht verlor Hermann den Rest von Liebe eben in dem Moment, da er sich vormachte, sie gefunden zu haben, genauer, als er Johanna sah, ein achtzehnjähriges Mädchen mit schwarzen Haaren, blass und dünn, das nie den Mund aufmachte und mit gesenkten Kopf herumlief, so als wünsche sie nur, dass die Welt keine Notiz von ihr nahm. Mit einer Frau zu leben, die sich mit jeder Geste für ihr bloßes Dasein zu entschuldigen schien, würde ihn vielleicht die Scham und Ohnmacht seiner Jugend, seine Wut und Einsamkeit vergessen lassen: Das spürte Hermann, auch wenn er es natürlich so nicht hätte sagen können. Obwohl er dieses Mädchen nicht liebte, hielt er um ihre Hand an. Johanna ihrerseits erkannte sogleich die Kälte in seinen hellen Augen. Allerdings glaubte sie auch, dort die Spuren einer verschütteten Zärtlichkeit zu entdecken, und machte sich vor, dass in diesem groß gewachsenen Mann mit dem hölzernen Gang eine nur ihr zugedachte tiefere Leidenschaft steckte. Das stimmte jedoch nicht, vielleicht hätte es so sein können, aber so war es nicht. Jedenfalls heiratete sie ihn.
    Ihr erstes Kind, Peter, kam mit dem verschlossenen Charakter seines Vaters und den dunklen Augen seiner Mutter zur Welt. Er war drei Jahre alt, als Hermann ihn sich auf die knöchernen Schultern setzte und sich mit ihm unter die Menschenmenge mischte, die sich an einer Kreuzung der Staatsstraße zusammendrängte. Dort oben kam sich der Junge groß und bedeutend vor, fast so wichtig wie der Kronprinz Umberto, der als Ehrengast zur Denkmaleinweihung gekommen war. Dieses Monument zu Ehren der italienischen Gebirgsjäger, der Alpini , war vom Bürgermeister vehement gefordert worden. Noch war die Statue mit einem weißen Tuch umhüllt, das der Sommerwind wie mit gewaltigen Atemzügen hob und senkte: Peter kam sie wie ein riesengroßes Gespenst vor, nicht menschlich, aber doch lebendig, pulsierend. Nach den offiziellen Ansprachen und musikalischen Darbietungen der Kapelle glitt das Tuch mit einem lauten Rascheln wie von einem Tier in ektoplasmatischen Schlängelbewegungen an der Figur hinab zu
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