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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Autoren: Francesca Melandri
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aus meinen Koffern auspacke. Als es Zeit fürs Abendessen wird, verschwindet sie wieder.
    Auf meinem Bücherschrank habe ich, in hellen Holzrahmen, zwei Fotos stehen. Das eine zeigt einen Jungen mit auffallend langen Wimpern wie ein Reh und einem Lächeln, das um Verzeihung zu bitten scheint: Das ist Ulli. Das andere ist schwarz-weiß und ein wenig vergilbt. Ein zehnjähriges Mädchen sieht man da zwischen zwei nur wenig älteren Buben – Vettern oder noch entfernteren Verwandten, ich weiß es nicht genau. Es zeigt sie, ein wenig im Gegenlicht, auf einer sonnenbeschienenen Alm, wo sie die Kühe hüten, die hinter ihnen zu sehen sind. Das Mädchen trägt ein Kleidchen, das sicher schon mehrmals weitergegeben wurde, und darunter schauen ihre ein wenig verdreckten nackten Beine hervor. Zwischen ihren Zehen sprießen einige Grashalme sowie eine Margerite. Sie blickt dem Fotografen direkt in die Augen. Die anderen nicht: Die beiden Buben starren sie an, verstohlen, mit offenem Mund, im Blick die Ehrfurcht und Fassungslosigkeit derer, die ein Naturwunder bestaunen.
    Meine Mutter, als kleines Mädchen.
    Sinnlos, einschlafen zu wollen, nach einem Zeitsprung von sechs Stunden, dazu noch in die falsche Richtung. Ich bin gar nicht ins Bett gegangen und habe stattdessen aufgeräumt. Jetzt öffne ich das Fenster und schaue in die tiefe Nacht hinaus.
    Obwohl es April ist, riecht die Luft noch nach Schnee. Doch die Lärchen erwachen bereits, das Harz steigt schon aus den finsteren Tiefen der Stämme und beginnt seine öligen Essenzen in der Luft zu verteilen. Ich atme tief ein und aus. In schlaflosen Nächten geht mir immer wieder auf, welches Glück es bedeutet, an einem Ort zu Hause zu sein, wo es gut riecht. Eingebettet in bläuliches Licht, blinken die Sterne und versprechen für morgen einen schönen, wenngleich kühlen Tag.
    Am Berghang vor meinem Balkon bewegen sich die Lichter der Schneeraupen die ganze Nacht über auf und ab wie kleine Raumschiffe, brav in einer Reihe. Mit dem Fortschreiten des Frühjahrs wird ihre Aufgabe, den Skifahrern bis zum Ende der Saison verschneite Pisten bereitzustellen, undankbarer. Immer schneller schmilzt der Schnee, und er fällt kaum noch nach. An wie viele Dinge könnte ich denken, wenn ich den am Hang hoch- und runterkletternden Lichtern zusehe: an das warme Führerhaus von Marlene, der Schneeraupe mit dem Frauennamen, in dem man es auch in eisigen Winternächten gut aushalten konnte; an unsere leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um die bessere Musik, Ullis Simply Red gegen meine Eurythmics, über eine Stereoanlage ausgetragen, die er selbst im Führerhaus in-stalliert hatte; an den seltsamen, schwarz-weiß gestreiften Stoff, mit dem die Sitze verkleidet waren, als wäre Marlene ein texanischer Truck und diese Skipiste eine endlose Asphaltgerade im Monument Valley. An all das könnte ich denken. Aber ich tue es nicht. Zumindest nicht jede Nacht.
    Oben auf dem Gipfel, in der klaren Luft über zweitausend Metern, genau unter dem Gürtel von Orion, strahlen die stets eingeschalteten Scheinwerfer der sogenannten Fabrik unerbittlich wie die einer Strafanstalt. Lange betrachte ich sie. Und wieder ein Gedanke, der mich selten streift: Eines Tages hätte sie mir gehören können, diese »Fabrik«, aber das wird nie geschehen.
    Noch einmal hole ich tief Luft, bevor ich das Fenster schließe.
    Als ich die erste Tasse Kaffee trinke, ist vom Morgengrauen noch nichts zu sehen. Müde bin ich nicht, aber was soll man morgens um sechs schon anderes zu sich nehmen? Diese Nacht kann ich vergessen, sage ich mir, es wird besser sein, wenn ich gar nicht mehr einzuschlafen versuche. Ich werde am Abend früh zu Bett gehen und dann morgen ausgeschlafen bei meiner Mutter erscheinen. Hoffe ich zumindest. Seit drei Tagen ist sie, wie ich weiß, mit Ruthi und weiteren Verwandten dabei, das Osterfestessen vorzubereiten. Schlutza, Tirtlan, Strauchln. Und dann Topfentaschen, Rollade und natürlich Grappa mit Preiselbeeren vom letzten Sommer. Ich möchte meiner Verpflichtung, all diesen Leckerbissen die Ehre zu erweisen, gern nachkommen, aber wenn ich keinen Schlaf finde, werde ich auch keinen Appetit mehr haben.
    Immer noch schwarz zeichnet sich der Berg gegen den jetzt von einem fahlen Licht erhellten Himmel ab, während im Osten eine einzelne leuchtende, rosa-, fast orangefarbene Wolke hervorsticht. Die Schneeraupen ruhen mittlerweile in ihrem aus dem Fels geschlagenen Hangar. Die Fabrik strahlt immer noch, aber
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