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Europe Central

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Titel: Europe Central
Autoren: William T. Vollmann
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der Lubjanka in einen engen Hof, wo sie vom Kommandanten des Kremls, P. D. Malkow, höchstselbst von hinten erschossen wurde. (Von der Eminenz I. M. Swerdlow, die sich schon bei der Liquidierung der Familie Romanow so unentbehrlich gemacht hatte, war Malkow angewiesen worden: Ihre Überreste sind vollständig zu vernichten. ) So viel zu Leben und Werk der schwarzhaarigen Frau.
    Die Geschichte von Lenins Braut, der N. K. Krupskaja, bietet Stoff
für eine heiterere Parabel. Und verfügt die Parabel nicht über mehr Integrität, mehr Rechtschaffenheit, wie man fast sagen könnte, als jede andere literarische Form? Ihre vielen Konventionen knüpfen einen heiligen Bund zwischen dem Leser, dem die ersehnte Mystifikation in bonbonkleiner Dosis verabreicht wird, und dem Autor, den seine Abwesenheit ins Göttergleiche erhebt. Gewiss, manchmal verdichtet gerade die Strenge dieser Form Ereignisse ins Absurde, wie wir es aus Träumen kennen. Im Fall der Krupskaja – wäre da nicht ihre beinahe zufällige Ehe, sie wäre der Weltgeschichte so verborgen geblieben wie der stumme Buchstabe Aleph. Was war sie in ihren Mädchenjahren denn schon? Eine Chiffre wollen wir sie nicht nennen; dass ihre Parabel, wie die unsere, mit der Geburt begann, können wir ihr nicht absprechen. Aber in diesem Genre (so wie in der Lyrik) muss alles eine Bedeutung haben. Jeder Tod braucht einen guten Grund. Jedes Wort , bis hin zu seinen klaffenden Lettern o und grinsenden Lettern e, muss in den Sätzen davor und danach widerklingen – und das nicht um der Vorhersehbarkeit willen, denn das wäre öd; vielmehr muss der Leser nach jedem Komma im Rückblick sagen können: Warum habe ich das nicht kommen sehen? Fanny Kaplan zum Beispiel wurde ihr Todesurteil nie verkündet. Und doch fand sie es stimmig, als ihr die erste Kugel zwischen den Schulterblättern explodierte, und sie schrie nicht vor Überraschung auf, sondern in verzweifelter Furcht, vor Zorn auf das Unausweichliche. – Was die Krupskaja angeht, wir dürfen sie den Liebling der Parabelhöker nennen, sie als vollendete Personifikation der Konvention einführen. (Deshalb sind ihre gesammelten Werke so todlangweilig.) Trotzki behandelte sie verächtlich, Stalin kommandierte sie am Ende herum; Lenin selbst benutzte sie einfach. Historiker sehen in ihr treu ergebenes Mittelmaß. Ich meinerseits habe immer ein Streben nach Güte aus ihr herausgelesen, wofür ich sie loben will. Unsagbar typisch für ihre Epoche – und darin Fanny Kaplan vielleicht seltsam gleich – war sie ein Leben lang von Inbrunst getrieben. So wie der gleiche Buchstabe in zwei Wörtern gegensätzlicher Bedeutung auftauchen mag, schreiben sich die Leben dieser beiden Frauen in nahezu identischen Zeichen. Wer wäre ich, in den Schwärmereien der Krupskaja irgendetwas zu entdecken, das Fanny Kaplan fremd gewesen wäre? Die eine liebte die Revolution, die andere hasste sie. Welche Macht hat sie in Gegensätze verwandelt, wenn sie denn Gegensätze waren?
    2
    Wir haben gelesen, dass die Krupskaja ursprünglich (das heißt: vor dem angenommenen Beginn ihrer Parabel) ein frommes, kleines Mädchen war, das vor der Ikone in ihrem Zimmer betete, und dann zur glühenden Tolstojanerin wurde. Gemeinsam mit ihren Freundinnen griff sie einen reichen Fabrikbesitzer mit Schneebällen an. Mit fünfzehn sehen wir sie, wie sie feindseligen und stumpfsinnigen Bauern bei der Heuernte hilft, mit zweiundzwanzig bringt sie Fabrikarbeitern nachts das Lesen und Schreiben bei. Sie war eine jener Menschenseelen, die sich auf dieser Welt vor allen Dingen nützlich machen wollen. Unbewusst fand sie sich zum Buchstaben Chet hingezogen, der dem griechischen Buchstaben pi ähnelt und, folglich das Bild eines Tores abgebend, auf Besitz verweist. Sie sehnte sich danach, sich hinzugeben, besessen zu werden, zu wissen, wo sie stand.
    Als sie sechsundzwanzig war, nahm sie Lenins mit unsichtbarer Tinte geschriebene Manifeste aus dem Gefängnis entgegen, machte sie lesbar und trug sie zu Druckern im Untergrund. Der Legende nach war es eine ihrer größten Freuden, die Zauberbuchstaben im kochenden Wasser erscheinen zu sehen, als trügen sie eine speziell an sie gerichtete, geheime Botschaft und wären nicht bloß ein weiterer eisern unpersönlicher Aufruf an die Arbeiter. (Und glauben Sie, lieber Leser, nicht auch sehr gern, dass diese Geschichte, die zu lesen Sie sich die Mühe machen, Ihnen persönlich etwas zu sagen hat?) Aber aus eben demselben Grund, aus
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