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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central
Autoren: William T. Vollmann
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dem sie modische Kleider, Pralinen und andere frivole Vergnügungen ablehnte, versuchte die Krupskaja sich einzureden, dass ihr Schicksal in ihrem Verzicht auf Transkription lag.
    Als sie siebenundzwanzig Jahre alt geworden war, wurde N. K. Krupskaja zum ersten Mal verhaftet. Nach zwei Monaten Untersuchungshaft entließ man sie, weil man sie für eine verschüchtertes Hascherl hielt, das nur aus Versehen in illegale Aktivitäten verwickelt worden war, aber ihr Einsatz für die Streikenden von Kostroma war von solchem Überschwang, von solcher Verwegenheit, dass man sie nach nur achtzehn Tagen erneut verhaftete.
    Und wieder scheint für mich hier jene blasse Sozialrevolutionärin mit den spitzen Zügen auf, die Lenin umbringen wollte. Es heißt, Fanny Kaplan sei schon mit sechzehn eine überzeugte anarchistische Terroristin gewesen. Als die Gendarmen hereinplatzten, hockte sie mit ihren Genossen rund um das Bett und baute sorgfältig eine Bombe zusam
men, wie die Kabbalisten, wenn sie die diversen Emanationen und Manifestationen Gottes in ihren von Kreisen übersäten Diagrammen zu wimmelnden Molekülen ordnen. Es heißt sogar, dass selbst die Polizei von der Vollkommenheit der auf den weißen Laken des Mädchens ausgebreiteten dornigen grauen Kugeln ergriffen war. Das Gericht bangte um das Leben des Zaren und verurteilte sie zunächst zum Tode, aber aus Rücksicht auf ihr Alter und ihr Geschlecht wurde die Strafe zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Sibirien umgewandelt. Dort hauste sie zwischen dem Eis auf den Flüssen und unter dem himmlischen Alphabet der Sternbilder, bis die Oktoberrevolution sie amnestierte. Da war Fanny Kaplan entschlossener denn je, ganz Russland von zentralistischen Abscheulichkeiten zu befreien.
    Was die Genossin Krupskaja angeht, die ebenso wenig Reue zeigte, so hielt man sie fünf Monate lang in der weißen Leere der Zellen, bis eine Strafgefangene namens M. F. Wetrowa sich aus Protest gegen ihr eigenes Schicksal verbrannte. Und so diktierte diese (ansonsten nahezu unbekannte) Frau, in ein Flammengewand gehüllt, der Weltgeschichte ihre Parabel der Rechtgläubigkeit. Wer sagt, Parabeln bestünden nur aus Worten? Vom Propagandatriumph der Wetrowa beschämt, fühlten die Behörden sich gedrängt, bei den übrigen weiblichen Häftlingen eben die Nachsicht walten zu lassen, die auch Fanny Kaplan genießen würde. Im März des Jahres 1897, nicht lange nach ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag, setzten sie die Krupskaja ihrer schwachen Gesundheit wegen auf freien Fuß. (Fanny Kaplan war ebenfalls achtundzwanzig, als Malkows Kugeln sie für immer befreiten.)
    Ein Foto aus dieser Zeit zeigt uns die Krupskaja in ihrer blassen, strengen Schönheit. Ihre glatte Stirn leuchtet wie die Wintersonne auf einer schneebedeckten Wiese, ihre zusammengekniffenen Lippen können die ihnen eigene Sinnlichkeit nicht ganz verleugnen, und ihre Augen richten den Blick mit schmerzhafter Aufmerksamkeit ins Idealische – dunkle Augen sind es, sehnsuchtsvolle Augen, die unverwandt ein Verlangen nach tieferer Bedeutung verströmen. Ihr brav hochgeschlossener Kragen verhüllt sie fast bis ans Kinn, und so ist sie ganz Gesicht, verschlossen, aber mit einem Versprechen, wie eine Knospe. Das Haar trägt sie streng zurückgekämmt und kurz; sie ist eine Rekrutin, eine Kämpferin, eine Militante.
    3
    Sie wusste, dass Lenin in seiner sibirischen Verbannung eine Schreiberin brauchte, und als sie erfuhr, dass auch sie bald verbannt werden würde (da die Polizei, was das Erkennen von Gefahren anging, nicht nur aus Analphabeten bestand), nahm sie das Angebot ihres Führers an, eine Zweckehe einzugehen, und antwortete mit den berühmten Worten, die ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Institutionen des Bürgertums zum Ausdruck bringen sollten: Na, was solls. Wenn als Ehefrau, dann eben als Ehefrau.  – In Wahrheit besteht Grund genug zu der Annahme, dass sich hinter dieser Schnodderigkeit große Leidenschaft für ihr Idol verbarg. – Nach ihrer Ankunft im folgenden Jahr, als Fanny Kaplan ihren zehnten Geburtstag feierte, ließen die wieder vereinten Atheisten in Schuschenskoje, das man wehmütig »das Italien Sibiriens« nennt, eine komplette kirchliche Trauung über sich ergehen.
    Das Gesetz sah den Tausch von Ringen vor; und die Anhänger jenes kabbalistischsten aller Genres, der »Parabel in der Parabel«, könnten sich durchaus auf diesen kläglichen Teil der Zeremonie fixieren und der Versuchung erliegen, den paradoxen
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