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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central
Autoren: William T. Vollmann
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Engel, eine unterwürfige Beute. Europa ist Lisca Malbran. Nie hat Europa eine Hexe verbrannt oder Hand an einen Juden gelegt! Wie kann man Europas Schätze fassen? In Prag zum Beispiel sieht man durch die Bogenfenster der Glockentürme den Morgen dämmern, und er schimmert noch verführerischer in diesem mit Grünspan belegten Rahmen, dessen Tragwerk, der Finger des Turmes selbst, sich aus dem Fleisch der Stadt erhebt, über ihre mit Blumenreliefs, Friesen und Löwenköpfen geschmückten Fassaden, und ihre von Mauern umfriedeten und verwinkelten Gassen haben ach so viele Augen; Europa wurde oft geschändet, es bleibt wachsam, weshalb manche ihrer Augen selbst jetzt noch im Lampenschein schimmern, aber was nützt das schon, wenn man sie kommen sieht? Schon huschen ihr die ersten Eisenläuse über die vom hell- und dunkelgrauen Kopfsteinpflaster warzige Haut. Europa spürt alles, erduldet alles, reckt ihre wolkenberingten Kirchenfinger himmelwärts, um sich trauen zu lassen.
    Was hat den Stahl in Bewegung gesetzt? Der-Obersturmführer Kurt Gerstein selig hat mir geraten, in der Heiligen Schrift nach Antworten zu suchen, in den alten griechischen Bibeln der Schaltstelle Europa mit ihren roten Majuskeln und den schwarzen Holzschnitten schauriger Mumien, die aus engen Sarkophagen brechen; ein paar Dutzend dieser Bände haben den Krieg überlebt. Für Gerstein wurde Erhellung zu einem noch märchenhafteren Lösungsmittel als das Xylol, in das unsere Forensiker die Ausweispapiere einlegen, die sie im Wald von Katyn ausgegraben haben. (In diesem Bad erwacht die von der Leichenflüssigkeit weggeätzte Tinte wieder zum Leben.) Haben Sie je einen Tankwaggon durch Beschuss mit Brandmunition in die Luft fliegen sehen? Erhellung muss noch heller strahlen! Er fragte sich, was er seinen strengen Vater nie zu fragen gewagt hatte: Warum so viel Tod? Seine blutroten Bibeln erklärten es ihm.
    Das Telefon läutet. Es setzt mich davon in Kenntnis, dass Gersteins Antwort zurückgewiesen wurde, dass Gerstein gehängt wurde, ausradiert, völlig zerschmettert. Es verbindet mich mit dem ehemaligen Feldmarschall Paulus.
    Paulus teilt mir mit, die Lösung jedes Problems sei allein eine Frage der Zeit und Kampfkraft.
    Und so mache ich mich nun, in dieser kalten Winternacht, bereit, in die tiefere Bedeutung Europas einzumarschieren; ich kann es schaffen; ich kann es beinahe schaffen, so wie man an eine Bresche in der Mauer einer rumänischen Festungsruine tritt, die den Blick auf volle Lindenwipfel freigibt; man sieht sie wogen und dann in der Ferne abrupt zu den Feldern hin abfallen.
    ----
    [ 1 ]  So dieser Organismus in Moskau haust, vermute ich, dass sich das Hirngehäuse aus sowjetischem Duralumin zusammensetzt – einer hervorragenden Sorte, kol tsch ugaljuminij genannt, entwickelt von Ju. G. Muzalewski und S. M. Woronow.

Zangenangriffe
    (1914-1975)

Die Erlöser:
Eine kabbalistische Geschichte
    1
    Die Geschichte der Fanny Kaplan, dieser dunkelhaarigen blassen, schlanken Idealistin, erzählt sich, ganz im Geiste ihrer Zeit, in bitterer Kürze. Denn so wie der Tyrannenmord die Mühlen der Justiz schneller mahlen lässt, tun es auch die Tyrannen. Nur vier Tage verstrichen zwischen der großen Tat und der Vergeltung, und in den meisten Geschichtsbüchern würde so eine Zeitspanne nicht mehr als ein paar Auslassungszeichen zwischen zwei Worten ausmachen, ein Vierergespann aus Punkten, also: … . – aber wenn wir sie zu Sphären vergrößern, zeigt sich, dass ein jeder Punkt einen Haufen aus vierundzwanzig Stunden enthält, grau und verhuscht wie verwaiste Mäuse; und im Fleisch einer jeden Stunde sehen wir einen Schwarm nutzloser Momente wie Ameisen, deren Königin dahingeschieden ist; und in jedem Moment eine unendliche Menge von Momenten wie scharfzackige, aus den Worten geschüttelte Silben – und am Ende dieser Zeitspanne wurde Fanny Kaplan über das Tau hinausgetragen, den letzten Buchstaben des magischen Alphabets. Ihr Anschlag ereignete sich am 30. August 1918. Es steht geschrieben, als Lenin am Boden lag, sei die junge Attentäterin in Panik geflohen, dann aber, als ihr wieder einfiel, dass der Moralkodex der Sozialrevolutionäre von ihr verlangte, ihr eigenes Leben für das des Opfers hinzugeben, sei sie im Lauf stehengeblieben, habe sich umgedreht und sich zitternd und schweigend unseren Sicherheitskräften ergeben. Am 3. September führte man Fanny Kaplan, die zufällig durch ihre »jüdischen Gesichtszüge« auffiel, in
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